Das Kreuz – Ikone einer Liebe, die verbindet

„Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er sein Leben für uns hingegeben hat. So müssen auch wir das Leben für die Brüder hingeben!“ (1 Joh 3,16) Wir stehen am Cibeles-Platz, mitten im Herzen von Madrid, und warten mit mehreren Gruppen junger Leute aus verschiedenen Nationen auf irgendjemand, der uns abholt, um uns für den „via del cruz“ vorzubereiten. Lange Zeit geschieht nichts. Wir, das ist eine kleine Gruppe junger Leute von der Fazenda da Esperanca und einige ihrer Freunde. „Leben geben!“ geht mir als Impuls durch den Kopf. So spreche ich verschiedene der kleinen Gruppen an. Es sind junge Menschen und ihre Begleitungen aus den Krisengebieten dieser Welt.

Ein erster Priester, den ich kennen lerne, kommt aus Japan, aus dem Großraum Fukushima. Ich erzähle ihm von einer „Nachtwache für Japan“, die wir nach der Reaktor-Katastrophe für sein Land in unseren Pfarreien gemacht haben. „Yeah, it’s so fine, that we are united!“ antwortet er. Eine zweite Gruppe – es sind Schwarzafrikaner – kommt aus Ruanda. Ich erzähle ihnen, dass ich im Jahr 2005 die Chance hatte, mit Jugendlichen aus Deutschland ihr Land zum nationalen Weltjugendtag zu besuchen. Sie erinnern sich. Sie erzählen aus Ihrem Land, wie die Entwicklungen weiter gegangen sind und wie schwer der Weg zur Versöhnung ist. Sie schenken mir eine kleine Flechtarbeit. Ich erzähle ihnen vom Leben auf der Basis des gelebten Evangeliums auf den Fazendas. Gebannt hören sie zu. Eine weitere Gruppe kommt aus Albanien. Als ich ihnen erzähle, dass ich im Jahr 2004 aus ihrem Land mit jungen Leuten aus Polen, Tschechien, Deutschland, Albanien und Bosnien das Weltjugendtagskreuz abgeholt habe, strahlen sie.

Meine Gedanken gehen zurück. Es waren damals bewegende Augenblicke. In Shkodra – einer Stadt im armen Norden Albaniens – waren wir bei strömendem Regen in einer ärmlichen Dorfkirche dem Kreuz begegnet. Die Kirche war voller armer junger Menschen – völlig durchnässt. Viele unserer Gruppe hatten begonnen zu weinen, denn es war ein ungeheuer starker Eindruck in uns erwacht: „Jesus ist da! Hier in dieser großen Not ist er fast zu berühren!“ Weil ein Kleintransporter, ursprünglich für den Transport des Kreuzes geordert, zusammen gebrochen war, hatten wir das Kreuz nach langem Warten in unsere VW-Bullies genommen. Der Längs- und Querbalken lag zwischen unseren Schlafsäcken und Rucksäcken. Es hatte uns damals sehr bewegt. Wir hatten begonnen, den Rosenkranz in all den Sprachen, in denen wir zu Hause waren, zu beten und hatten lange von unseren eigenen Lebens- und Leidenswegen erzählt. Dann waren wir mit diesem Kreuz durch ganz Montenegro gefahren und hatten es in die Berge Bosniens gebracht. An viele Orte, wo der bosnische Krieg grausam gewütet hatte, waren wir mit dem Kreuz gebracht worden, bis uns Kardinal Puljic mit dem Kreuz aus seiner Stadt Sarajevo nach Berlin verabschiedet hatte.

Und noch andere Gruppen trafen wir an diesem Morgen mitten in Madrid. Sie kamen aus dem Irak und aus Haiti, aus Burundi und Italien, aus Ghana und Belgien… alle waren sie betroffen von Leid-Situationen. Leid in seinen vielfältigsten Formen war zu spüren, ausgelöst durch Naturkatastrophen, wie beim dem schrecklichen Erdbeben in Haiti, ausgelöst durch ethnische Konflikte wie bei den grausamen Genoziden in Ruanda und Burundi, ausgelöst durch Kriegswirren, wie im Irak und in Bosnien, ausgelöst durch Sinnleere, wie bei Jugendlichen, die auf der Fazenda eine neue Heimat gefunden hatten, ausgelöst durch wirtschaftliche Armut…. Alle waren dem begegnet, der aus Liebe in unser Leid hinein abgestiegen war.

Zwei Mal trafen wir uns mit all diesen jungen Menschen, um für den Kreuzweg vorbereitet zu werden und das Tragen des Kreuzes „zu üben“. Und dann kam der Abend des Freitags, an dem wir mit Papst Benedikt in den Fußspuren Jesu seinen Kreuzweg gehen durften. Lange hatten wir nachmittags in der Hitze der spanischen Hauptstadt gestanden. Wiederum galt es, viele Stunden zu warten und auszuharren. Immer neu ergaben sich Gelegenheiten, mit dem einen oder anderen der jungen Leute aus der ganzen Welt zu sprechen und kleine Erfahrungen auszutauschen. Eine Gemengelage aus Gefühlen verwob sich in diesen Augenblicken. Die Albaner – voller Freude auf das, was geschehen würde, die Jugendlichen aus Haiti – voller Depression, kaum fähig zu reden, die Perspektivlosigkeit ihres Volkes konnten sie einfach nicht abstreifen, die Ruander – überglücklich, in diesen Augenblicken einfach hier sein zu dürfen, wir von der Fazenda – aus Brasilien (Bischof Don Dino war auch eigens gekommen!), aus Deutschland und Bosnien - bestrebt, den Geist der Familie unter uns wach zu halten. Joa war vor 2 Jahren noch ganz in der Droge gefangen gewesen. Er hatte immer neu Tränen in den Augen. Was für eine Gnade, jetzt als ‚Botschafter der Hoffnung‘ hier sein zu dürfen. Er war überwältigt von dem göttlichen Geschenk, für sein eigenes Leben eine zweite Chance erhalten zu haben – ja, die Gnade der Fazenda – ‚Botschafter der Hoffnung‘ zu sein, wie es Papst Benedikt bei seinem Besuch in Guaratingeta vor einigen Jahren gesagt hatte.

Als Papst Benedikt kam, brandete eine ungeheure Freude durch die Menge der vielen tausenden von Jugendlichen. Walmir und Joa hatten sich bis in die erste Reihe vorgearbeitet. Als das Papamobil vorbei fuhr, riefen sie aus Leibeskräften: „Fazenda da Esperanca!“ Der Papst drehte sich um und lächelte. Beim Rückweg sollte es den beiden nochmals gelingen. So erreichten sie – auch verbal – das Herz des Papstes…

Und dann begann der Kreuzweg. Aus dem religiösen Erbe der spanischen Diözesen waren überlebensgroße Andachtsbilder zu den einzelnen Stationen aufgestellt. Wir standen vor der 5. Station. Jesus wird das Kreuz auf die Schultern gelegt. Wir brachten es zur sechsten Station. Jesus bricht unter der Last des Kreuzes zusammen. Auf der Plaza de Colon begann der Kreuzweg – an diesem Abend. Auf einer großen Video-Leinwand konnten wir verfolgen, wie es von Gruppe zu Gruppe weiter gegeben wurde. Wir sahen die Gesichter der einzelnen jungen Leute, die wir in den Tagen vorher kennen gelernt hatten. In meiner Seele spürte ich ein großes Angerührtsein und eine tiefe Betroffenheit. Ich sah die Gesichter der Jugendlichen aus Ruanda – über eine Millionen Hutus und Tutsis waren dort innerhalb von drei Monaten auf bestialische Weise ermordet worden – ich sah die Gesichter der Japaner – die Ausmaße der Katastrophe von Fukushima sind noch lange nicht absehbar – ich sah die kleine Gruppe der Jugendlichen aus Haiti – die bebende Erde hatte sie jeglichen Standpunkt verlieren lassen - und ich sah eine Gruppe behinderter Jugendlicher – von vielem Alltagsgeschehen ausgeschlossen, schienen ihr Herz besonders mit dem Kreuz verbunden zu sein…

Und dann wurde das Kreuz auf unsere Schultern gelegt. Ein Augenblick tiefer Gnade, der mein Herz tief berührte. Ich hatte den Eindruck: Jesus berührt durch sein Kreuz einen jeden von uns – ganz innig und persönlich. Obwohl von außen so viele Menschen auf uns schauten, war es ein Blick und ein Geschehen ganz nach innen. Mir floss eine Träne über die Wange. Mehr als jemals zuvor hatte ich den Eindruck, von Jesus her eine Liebe zu spüren, die keine Grenzen kannte. Für einen jeden von uns, für mich war ER gekommen und in die Dunkelheit des Leidens hinabgestiegen. Es war wie ein inneres Zuflüstern: „Ich will, dass du, Meinolf - und jeder darf hier seinen Namen einsetzen – in all dem Dunkel und Leiden deines Lebens nie allein bist. Sei dir gewiss: Ich bin da!“ Diese Liebe durchbrannte mich ganz und ließ mich in all dem Bunten – ganz schlicht bei Jesus sein – Herz an Herz.

Ich verstand das Kreuz als „Brücke zwischen Himmel und Erde“ und als „Brücke auf der Erde“: „Brücke zwischen Himmel und Erde“: Von dort war Jesus gekommen, um uns eine Botschaft der „Liebe ohne Grenzen“ zu offenbaren. Das Kreuz war der Punkt absoluter Liebe. Seit dem Tod Jesu auf Golgatha gibt es kein „bis hierher und nicht weiter!“ mehr, denn Jesus hat in seiner Verlassenheit alles, jeden Schmerz, jede Dunkelheit und jede Verlassenheit umgriffen und ausgeleuchtet – das Kreuz als Zeichen der göttlichen Liebe, die bis zum Letzten geht.

„Brücke auf der Erde“: Wir Menschen sind im Tiefsten verbunden durch den, der in unsere Dunkelheiten gestiegen ist. Denn in der Depression der Haitianer verbarg ER sich. Die Unsicherheit der Japaner war SEIN Ort, die Tränen der Ruander waren SEINE Tränen, die fast körperliche Verwobenheit der behinderten Jugendlichen mit dem Kreuz war SEIN Ort. Die Ergriffenheit in unserer ‚Familie der Hoffnung‘ einander liebend Nähe zu schenken, war ER.

Langsam – fast zärtlich - trugen wir das Kreuz zur 6. Station. Ich sah Walmir und Joa, Teresa und Alin, Rebekka und Nils, Tanja und Diana, Petra und mich. Ein jeder von uns geliebt, ganz persönlich. Wenige Augenblicke später wandte sich Papst Benedikt an uns alle: „Die Passion Christi drängt uns, das Leiden der Welt auf unsere Schultern zu nehmen, in der Gewissheit, dass Gott nicht jemand ist, der dem Menschen und seinem Missgeschick distanziert und fern gegenüber steht. Im Gegenteil, er wurde einer von uns, um mit den Menschen mit-leiden zu können, ganz real in Fleisch und Blut. Von da aus ist in alles menschliche Leiden ein Mitleidender, Mittragender hinein getreten, in jedem Leiden ist von da aus die ‚consolation‘, der Trost der mitleidenden Liebe Gottes anwesend und damit der Stern der Hoffnung aufgegangen.“

Und weiter sagte der Papst: „Liebe junge Freunde, möge die Liebe Gottes zu uns eure Freude mehren und euch drängen, den weniger Begünstigten nahe zu bleiben. Ihr, die ihr sehr empfänglich seid für die Idee, das Leben mit den anderen zu teilen, geht nicht am menschlichen Leiden vorbei, wo Gott auf euch wartet, damit ihr euer Bestes gebt: eure Fähigkeit zu lieben und mit zu leiden. Die verschiedenen Formen des Leidens, die auf dem Kreuzweg vor unseren Augen vorbeigezogen sind, sind Aufrufe des Herrn, das Leben zu entfalten, in dem wir seinen Spuren folgen, und uns zu Zeichen seines Trostes und seines Heils zu machen.“

Ja, wir selber – antwortend auf SEINE unendliche Liebe – das Leiden unserer Nächsten teilend und mittragend – als Zeichen seines Trostes, Botschafter der Hoffnung. Vom Kreuzweg bleibt mir der Blick der vielen Leidenden und darin der suchende Blick Jesu. Bleiben wir unter diesem Seinem Blick – antwortend mit unserem Leben, Tag für Tag neu.

Meinolf Wacker



Gastfreundschaft


Tritt durch den Spalt,

atme de Ordnung,

lerne am Herd

die Würdes des Gastes

und empfang

in der Fülle der Gaben

deren königliche:

anvertrautes Leid.

                    Klaus Hemmerle