Ein Lichtstrahl vom Ende der Welt - "heaven happens!"

Chiara Luce Badano

“Come voi! Come voi!” (Wie ihr!) ruft Maria Teresa, die Mutter von Chiara Luce Badano, immer und immer wieder in den kleinen Raum, in dem wir dicht gedrängt um sie und ihren Mann Ruggero sitzen. Vor drei Tagen erst hatten wir uns in zwei Bullis auf den Weg von Kamen aus nach Sassello gemacht. Nach ca. 1000 Kilometer hatte die letzte Weg-Etappe vor uns gelegen. Dichtester Nebel und Dunkelheit umfingen uns. Unser Navi führte uns über engste und steilste Straßen in eine gottverlassene Gegend? “Wo sind wir denn hier angekommen?” hatte etwas entgeistert eine der Firmbewerberinnen gefragt, die sich auf das Abenteuer “5 Tage auf den Spuren von Chiara Luce in Sassello” eingelassen hatte...

Aber jetzt saßen wir in dem Haus, in dem Chiara Luce gelebt hatte und gestorben war. Wir schauten in die brennenden und strahlenden Augen von Maria Teresa Badano, der Mutter und in den gütigen und bergenden Blick von Ruggero, dem Vater von Chiara. “Wißt ihr”, erzählte Chiaras Mutter, “Chiara war eine von Euch! Sie war ein ganz normales Mädchen, aber sie war immer total da, im Augenblick. Und sie verschenkte sich, wo sie nur konnte und hatte dabei immer eine echte Freude im Herzen. Sie war sooo normal. Sie sang gerne, sie tanzte gerne. Und sie war beliebt bei ihren Freunden und Freundinnen hier in Sassello! Ja, sie war nichts Außergewöhnliches! Sie war wie ihr! Und gerade deshalb lehrt sie uns, heilig zu werden, nicht voller Staub, sondern voller Leben!” Gebannt saßen wir auf dem Teppich des Hauses und hörten zu. Obwohl wir in den letzten Tagen und Wochen viel von Chiara Luce Badano erfahren hatten, war es hier anders. Wir waren in eine Wirklichkeit eingetreten, in etwas Größeres hinein genommen. Heiligkeit war in größter Einfachheit und Schlichtheit berührbar. “Touch me!” hatte vor Monaten das Motto eines Jugendtreffens geheißen. Hier berührte Jemand einen jeden von uns - ganz persönlich.

Maria-Teresa und Roggerio Badano

Als Geschenk hatten wir ein Lied mitgebracht. Darin hieß es: “Schenke dein Leben weiter, so wie Maria es schenkt am Fuß des Kreuzes und du wirst, Diener eines jeden Menschen, Diener nur aus Liebe, Liebe schenken, dem der Liebe braucht!” Wir sangen es für die Eltern. Uns war, als bündelten sich in diesem Lied die Lebenslinien von Chiara Luce. Denn das war ihr Leben gewesen. “Oh, das hätte Chiara eine Freude gemacht, bei diesem Lied mit dabei zu sein!” rief Maria Teresa aus, denn sie hat auch immer so gerne mit den Jugendlichen gesungen. “Aber sie ist ja dabei. Wißt ihr, Chiara ist nicht weg! Sie ist zwar gestorben und in den Himmel gegangen, aber sie ist nicht weg. In ihrer Liebe, in der sie sich immer geschenkt hat, ist sie mit uns, täglich, stündlich, nein augenblicklich. Und wißt ihr, was das größte Geheimnis ist? - In der Eucharistie begegnen wir uns am allertiefsten. Chiara ist schon bei Jesus. Sie schaut ihn. Sie schenkt sich ihm. Und Jesus ist ja in der Eucharistie ganz da. Er schenkt sich im Geheimnis des Brotes uns ganz und gar. Und wir schenken uns ihm. Und so sind wir verbunden mit Chiara im Himmel und sie ist bei uns. Und sie macht uns Mut, zu leben, wie sie gelebt hat. Oh, ich kann es nicht oft genug sagen: Sie war wie Ihr!”

“Oh, ist es Euch denn nicht zu kalt? Ihr könnt doch nicht auf dem Boden sitzen! Aber leider haben wir auch nicht genug Stühle!” hatte Ruggero zwei Mal dazwischen gerufen. Aus diesen Worten sprach das Herz eines Mannes, der sich väterlich sorgte und der auf seine Weise das Geheimnis seiner Tochter widerspiegelte. Wortkarg und eher scheu - war er ein Mann eher verhaltener Gesten. Als wir dann in das Zimmer von Chiara Luce hinein gingen, blieb er hinter mir stehen und während seine Frau viele kleine Erfahrungen ihrer Tochter weitergab, ließ er schweigend seine Hand auf meiner Schulter liegen. So tauchten wir ein in das Geheimnis göttlicher Nähe.
Wir standen im Zimmer eines Mädchens, das wirklich wie viele Zimmer dieser Zeit war. Persönliche Erinnerungs-Fotos an der Wand, Kuscheltiere auf dem Regal - der größte Teddybär Chiaras heißt übrigens Trudi! - Postkarten ferner Länder in einer Ecke, ein Rosenkranz, ein Kreuz...  “Und Gott hat so viel verrückte Phantasie!” erzählte Maria Teresa. “Nachdem Chiara nicht mehr laufen konnte und praktisch mit 17 Jahren das Bett nicht mehr verlassen konnte, setzten irgendwann Krämpfe in ihren Knien ein. Ihre Knie zogen sich immer zusammen, so dass wir sie immer und immer wieder herunter drücken mußten. So waren wir ihr nahe, oft Tag und Nacht! Ja, das war eine unglaubliche Nähe!”
Ich schaute in die Augen der Jugendlichen. Wir waren 20 Menschen in diesem kleinen Schlafzimmer. Viele weinten. “Aber es waren keine Tränen der Trauer” - erzählte später ein Mädchen - “nein, es war irgendwie eine ganz tiefe Rührung, die ich gar nicht erklären kann!” Wir waren hineingenommen, in das Geheimnis göttlicher Nähe, eine räumliche Nähe untereinander in diesem kleinen Zimmer, eine Nähe zu der Geschichte eines konkreten Menschen, der uns nah und gegenwärtig schien und letztlich war es eine Nähe, in der wir angerührt wurden von dem, dem Chiara Luce, nachdem sie nicht mehr auf Heilung hatte hoffen können, gesagt hatte: “Wenn du es willst, will ich es auch!”

Maria Teresa wies uns auf ein kleines Fenster im Zimmer hin, durch das Chiara immer neu den Himmel hatte sehen können. Sie hatte Freude an den Sternen gehabt, die sie von dort aus sehen konnte. Und einer war immer ganz hell und strahlend gewesen. Den hatte sie besonders gerne, weil sie in ihm die Nähe zu Jesus besonders spürte. Eines abends - wenige Tage vor ihrem Tod - konnte sie den Stern nicht sehen. “Mama, weißt du, warum ich diesen Stern heute nicht sehen kann?” hatte sie ihre Mutter gefragt. Und sie hatte geantwortet, dass wahrscheinlich eine Wolke ihr den Blick genommen hatte. “Nein, Mama, ich kann den Stern nicht sehen, weil ich heute nicht zu 100 Prozent meinen Schmerz Jesus geschenkt hab und ihn darin nicht ganz geliebt hab!” Wir standen vor, nein in dem Geheimnis einer Jugendlichen, die so mit Jesus gelebt hatte, dass der Himmel hier die Erde berührte. Wir standen mitten “im Tabernakel”, im Ort des Göttlichen. Gemeinsam beteten wir ein ‘Vater unser’ und beteten darum,  selber den Weg der Heiligkeit, den uns dieses Mädchen zeigte, mit Entschiedenheit unter die Füße zu nehmen. Einem der Jugendlichen wurde es schwarz vor Augen. Er sank in die Knie. Wir hielten seine Füße hoch. Sofort nahm Maria Teresa das Kissen aus Chiara Luces Bett und legte es unter den Kopf dieses jungen Menschen. Wir spürten: Hier war nichts Museales, nichts verkrampft Konservierendes. Nein, hier ging das Leben weiter, “Liebe schenkend, dem der Liebe braucht!”

“Das war eine Erfahrung total neuer Qualität. So was hab ich noch nie erlebt!” versuchte Hanna ihre Erfahrung ins Wort zu bringen. In aller Einfachheit und Normalität war uns hier der Himmel begegnet. Und das war nicht nur ein Augenblick, sondern wir spürten, wie er sich immer wieder ereignet hatte. Im Zusammensein mit Giuliano, dem Freund von Chiara, der uns gesagt hatte: “Die zwei Jahre, in denen Chiara krank war und wir ihr Leben einfach geteilt haben, waren die schönsten meines Lebens!” Und wir spürten das gleiche Strahlen und die gleiche Liebe, die Chiara hatte, in ihm. Als wir in Sassello angekommen waren, hatte er uns sofort mit einer Freude im Herzen zu unserer Unterkunft gebracht. Er hatte uns gleich für den ersten Abend in seine kleine Bar Gina eingeladen und mit Brot, Schinken, Getränken und Süßigkeiten versorgt. Er hatte uns seine persönliche Geschichte mit Chiara erzählt und uns immer wieder besucht. Und am letzen Abend hatte er uns Pasta und Pesto gebracht und in einer Messe hatten wir ihm und dem himmlischen Vater für alles gedankt. - Ja, “heaven happens!” - der Himmel ereignet sich - dort wo es gilt: “Liebe schenken, dem der Liebe braucht!”
               
                                         27 - 10 - 2013   Meinolf Wacker

Gastfreundschaft


Tritt durch den Spalt,

atme de Ordnung,

lerne am Herd

die Würdes des Gastes

und empfang

in der Fülle der Gaben

deren königliche:

anvertrautes Leid.

                    Klaus Hemmerle