"Ich hab sie über die Schwelle meines Herzens gehen lassen..." - Wege, um FIRM zu werden

“Ach, meine Hose!” - denke ich. Vor Tagen hatte ich sie in eine Änderungsschneiderei gebracht, die Taschen lösten sich. Und ich hatte vergessen, sie wieder abzuholen. Also schwinge ich mich aufs Fahrrad, um sie zu holen. Kaum bin ich über die Schwelle der kleinen Schneiderei getreten, höre ich schon: “Wie schön, dass Sie kommen! Wissen Sie, gestern waren die drei Firmbewerber bei mir. Ich hatte zunächst so viel Bammel vor dem Gespräch, zumal ich aus Polen bin und Deutsch ja nicht meine Muttersprache ist. Aber ich hab’s gewagt und bin so begeistert. Drei Mädchen waren bei mir. Ich hab auf meinem Küchentisch meine Lebensetappen mit einem Faden abgesteckt und dann habe ich ihnen einfach erzählt, wo ich groß geworden bin, was meine Träume waren, wie ich Gott kennen gelernt habe, wie ich durch die Liebe nach Deutschland gekommen bin und anfangs schwere Jahre durchzustehen hatte, wie ich echt großes Leid auszuhalten hatte und Gott dabei immer tiefer auf die Spur gekommen bin...”

Ich bin bewegt und begeistert zugleich, denn ich schaue in die strahlenden Augen einer jungen Mutter, die sich als “Zeugin” zur Verfügung gestellt hat, jungen Firmbewerbern in einer kleinen Clique von ihrem Glauben zu erzählen. Und nun höre ich hier mitten in ihrem Arbeitsalltag von ihren Erfahrungen. Eine weitere Kundin kommt ins Geschäft. So nehme ich meine Hose und steige voller Freude wieder aufs Fahrrad.

Zwei Abende später sehen wir uns erneut in einem großen - vor ca. zwei Jahren in der Kirche Heilige Familie aufgestellten - Zelt. Dieser Ort ist mittlerweile für viele ein vertrauter Ort geworden. In diesem Zelt haben wir im Februar dieses Jahres 27 Zeugen versammelt, die sich bereit erklärt hatten, eine zweiabendliche Zeugenschulung zu durchlaufen, die sie fähig machen sollte, auf ihre je eigene Lebensgeschichte zu schauen, darin die Spuren Gottes zu entdecken und diese Entdeckungen an junge Firmbewerber weiterzugeben.

Am ersten Abend sassen wir im bergenden Raum des Zeltes und lernten einander kennen - völlig verschieden wie wir waren: die junge Familien-Mutter, neben einer Filial-Leiterin, ein Architekt neben einem Rentner, eine Caritas-Engagierte neben einer Witwe, Ehepaare neben Alleinstehenden, eine Küsterin neben einer Studentin - und alles in einer Altersspanne von 24 - 76 Jahren. An diesem ersten Abend suchte sich jeder seinen Lieblingsort in der Kirche und nahm seine eigene Lebensgeschichte - mit Hilfe einer Lebenslandkarte - in Blick. Symbole aus einem Schatzsäcklein deuteten später so manchen “Lebensort”. Beim abschließenden Austausch fanden wir schon am ersten Abend zu einer solchen - z.T. von Tränen getränkten -  Tiefe, die Gott am Werk “sehen” ließ. Am zweiten Abend ging es darum, wie wir die Entdeckungen, die zwischenzeitlich in vielen Rand- und Kaffee-Gesprächen in der ganzen Stadt vertieft worden waren, an Cliquen von Jugendlichen weitergeben konnten. Einfachste Methoden spielten wir durch und am Ende des Abends, kam auf die Frage: ‘Und -  entscheiden Sie sich nun, die Rolle des Zeugen für die Jugendlichen zu spielen?’ von allen ein entschiedenes ‘Na klar!’

Am nun anstehenden “3. Zeugenabend im Zelt” ging es um den Austausch erster Erfahrungen in den ersten Gesprächen mit den Jugendlichen. Diese hatten sich zwischenzeitlich aus dem gesamten Pastoralverbund zu einem Informationsabend in der Kirche Heilige Familie getroffen. 66 junge Leute zwischen 15 und 17 Jahren waren gekommen. Auf diese Info-Veranstaltung waren sie durch kleine an den Schulen verteilten Visitenkarten und durch Plakate, die in der ganzen Stadt und an den Schulen aushingen, aufmerksam geworden. Nach dem jugendgemäßen, echt gelungenen Info-Abend in der Kirche - mit Hilfe bewegender Bilder von Fukushima hatten wir sie verstehen lassen, dass sie selber schon Zeugen aufrüttelnder Ereignisse waren und dass jedes Leben die Chance bietet, GANZ für etwas einzustehen -  ließen wir alle wieder frei! Es war deutlich geworden, dass sich jeder frei entscheiden konnte, den Weg in einer Clique zu einem der Zeugen zu wagen oder eben auch nicht. Eine Woche später bei der Anmeldeveranstaltung kamen 88 junge Leute, meldeten sich verbindlich an und entschieden sich für ihre Clique. Zwischenzeitlich hatten unzählige Gespräche zwischen den Jugendlichen an den Schulen und darüber hinaus stattgefunden... und die Zahl der Firmbewerber sollte noch auf weit über 90 steigen!

Von all diesen Erfahrungen erzählten wir den Zeugen am 3. Abend, selber gespannt, wie ihre ersten Begegnungen mit den Jugendlichen gelaufen waren. “Ich bin so begeistert von den jungen Leuten”, brach’s aus  einer Seniorin hervor. “Beim ersten Mal waren zwar alle überhöflich und wollten auch keine Cola, sondern nur Wasser, aber ich hab ihnen ganz treu meine Lebensgeschichte erzählt. Einer der Jugendlichen reagierte und sagte: ‘So was, dachte ich, gibt’s nur im Film, aber was Sie wirklich durchgemacht und gelebt und mit Gott getragen haben, fasziniert mich total!’ Und beim zweiten Mal hatten wir ein richtig ehrliches und spannendes Gespräch!” - “Und ich” - erzählte eine zweite Frau, fast unter Tränen - “hätte nicht für möglich gehalten, was in meinem ersten Gespräch geschehen ist. Unter uns war ein Klima, dass ich auch von echt schweren Zeiten in meinem Leben erzählen konnte. Ich hab nichts zurück gehalten. Ein Mädchen hat sogar geweint. Ich hab diese Jugendlichen echt über die Schwelle meines Herzens gelassen! Und ich hab sie jetzt im Herzen. Ich denke jeden Tag an sie und bete für sie. Die 3 jungen Leute wissen nun mehr über mich und meinen Weg hier in Kamen, als jeder andere - meine Familie ausgenommen!”

Eine weitere Frau: “Ich kann ihnen gar nicht sagen, welchen Bammel ich vor dem ersten Gespräch hatte. Ich hab doch fast noch nie über meinen Glauben gesprochen, das lerne ich doch erst gerade!” - Viele um sie herum nickten heftigst - gerade bei dem Wort ‘Bammel”. “Aber ich bin so begeistert von ‘meinen Jugendlichen’. Sie sind total verschieden. Ich hab ihnen erzählt von echten Brüchen in meinem Leben, von Phasen, in denen ich weit von der Kirche und von Gott entfernt war, in denen ich echt gehadert habe... und dann sagte einer der Jugendlichen: ‘Boh, Sie sind ja genau wie ich!’ und damit war das Eis gebrochen. Und von der Mutter eines sehr stillen Jungen hörte ich später, wie sehr auch er getroffen war und zu Hause davon erzählt hatte!” Von dieser Zeugin bekam ich nach dem zweiten Gespräch mit den Jugendlichen in ihrer Wohnung eine sms: “Total genial! Diese Jungs! Wahnsinn! Wir waren in einer solchen Ehrlichkeit und Tiefe! Wurde dann beruflich rausgerufen. Aber wir machen weiter. Der dritte Termin steht schon!” Die gleiche Info kam wenige Minuten später per sms auch von einem der begeisterten Firmbewerber, der vorher seiner Mutter offen gesagt hatte, dass der Kirche nur “scheiße” fände und nur wegen des Geldes zur Firmung gehe. Daraufhin hatte ihm die Zeugin - denn vor ihr hatte er diese Motivation auch geäußert - gefragt. “Ach, bist du käuflich?” Dieses Wort hatte ihn gefuchst. Jetzt war er durchgedrungen.

Auch an diesem Abend stellen wir uns nach zwei Stunden erfüllten Austausches wieder um den Altar, beten für die Jugendlichen, singen noch ein Lied und bitten Gott um seinen Segen, damit wir alles “in Seinem Namen versammelt” tun können. Echt bewegt und erfüllt gehe ich nach Hause. Um Mitternacht finde ich noch von zwei der Zeuginnen eine Mail. “Wir waren noch einen griechischen Salat essen! Das war ein Superaustausch. Drängt nach Fortführung!”

Als ich am nächsten Morgen ins Pfarrbüro komme, strahlt mich ein Rentner an. “War gerade beim Arzt. Spannend! Der hat mir lang und breit von den Zeugenerfahrungen seiner Frau erzählt - wie sehr sie bewegt ist und wie viel das in Bewegung gebracht hat. Als ich dann nach Sankt Marien komme, höre ich: “Unsere kommen heute nachmittag!” Und ich sehe ein echtes Strahlen in den Augen eines älteren Ehepaares. “Wir haben uns total gut vorbereitet! Aber wir können Ihnen sagen: Das ist ja alles mehr als spannend!”

“Salz der Erde”  - “Sauerteig der Welt”. Diese Bilder gehen mir nicht wieder aus dem Kopf. Im Büro, in den Cafés unserer Stadt, in den Arztpraxen und Häusern, zwischen Ehepaaren und Freundinnen, in den Restaurants und Autos... überall haben Menschen begonnen, über ihren Glauben zu reden, Männer und Frauen. Das, was Gott in den einzelnen an Großem - oft in aller Verborgenheit -  getan hat, wird entdeckt, wird erzählbar und damit zeugenhaft weiter geb bar. Als ich die einzelnen Zeugen vor meinem geistigen Auge noch einmal betend durchgehe, kommt mir in mein Herz ein Wort Jesu: “Ich preise Dich Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Kleinen und Unmündigen aber offenbart hast!”

In Zeiten des Umbruchs, die auch Zeiten heftigen Gegenwindes sind, spüre ich, wie Gott den Leib seiner Kirche hier in Kamen neu werden lässt. Es ist, als schälte sich langsam ein schöner Schmetterling aus seinem Kokon - einer, der durch die ganze Stadt fliegt. Mir war, als könnte ich anfanghaft schon diesen Leib der Kirche geboren werden sehen. Was für eine Freude und für eine Gnade! Ja, die Kirche - so hatte ich noch vor wenigen Tagen zum Pfingstfest gepredigt - ist allein dazu da, die Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus, die in einer ‘Liebe bis zum Kreuz’ gipfelt, bei jedem Menschen dieser Welt ganz persönlich ankommen zu lassen. Und genau das geschah: In vielen Gesprächen erzählten sich Menschen genau davon und den Jugendlichen gaben sie genau diese Entdeckung sehr persönlich weiter. Einige der Jugendlichen zeigten sehr stark ihre Betroffenheit, andere verharrten noch mehr oder weniger still... Aber auch an ihnen ging dieser göttliche Tau nicht spurlos vorbei. Und für die Zeugen der Stilleren hatten wir ja auch noch ein paar Ideen weiter gegeben, wie ein Weg mit ihnen gelingen kann.

Nun warten wir hoffnungsvoll, was Gott weiter wachsen lässt: Bei einem bald anstehenden Jugendgottesdienst, in dem wir den Jugendlichen die Botschaft des gelebten Wortes weitergeben wollen, bei einem großen Reflektionstreffen rund um kleine Feuer, bei denen die empfangenen Schätze nochmals angeschaut und ausgetauscht werden sollen, bei einem Video-Abend, an dem wir den jungen Christen die Lebenslinie von Chiara Luce Badano, die im September des letzten Jahres selig gesprochen worden ist und seither für viele junge Menschen auf der ganzen Welt ein leuchtendes Vorbild geworden ist, präsentieren werden, bei einem Fest der Versöhnung, das wir mit Lebenszeugnissen junger Leute feiern werden, bei einigen Tagen für Interessierte auf der Fazenda da Esperanca in Mörmter, bei den Nachfolgeveranstaltungen im nächsten Jahr wiederum mit einem Bosnien-Camp, für das sich schon jetzt einige angemeldet haben... - einschließlich eines Vaters, der mit Kirche noch nie einen Berührungspunkt hatte.

Ja, in dieser Nacht spüre ich es neu: Gott ist am Werk. ER will seine Kirche neu, den Menschen nah. ER will sie als Stadt Gottes mitten in der Stadt der Menschen. ER will sie in den Büros und Geschäften, in den Cafés und Sportstätten, in den Kirchen und Praxen... ER will sie bei den Menschen, damit jeder ein Doppeltes versteht: Ich bin unendlich geliebt! und: Ich bin nicht allein!

Die Botschaft dieses göttlichen Geheimnisses wach zu halten, ist der Auftrag für uns Priester -  mitten in den Wüsten dieser Welt. Wie gut, seit einiger Zeit Samstag für Samstag - wenn ich in Kamen bin - von 20 - 21 Uhr im Zelt zu sein, vor IHM in der Monstranz. Es ist Woche für Woche ein Gebet in den Anliegen unserer Stadt und der ganzen Welt (urbi et orbi) geworden. Auf dem Boden sitzend - vor IHM, der sich schenkt und zum Schenken einlädt. Ich habe es Menschen erzählt, dass ich es tue und in dieser Zeit in der Kirche nur die Turm- Tür öffne... Mehr und mehr Menschen kommen, sind einfach mit da - eine halte Stunde schweigend - dann Erfahrungen austauschend. Ja, der Leib wächst, SEIN LEIB!

06 - 2011 Meinolf Wacker

Gastfreundschaft


Tritt durch den Spalt,

atme de Ordnung,

lerne am Herd

die Würdes des Gastes

und empfang

in der Fülle der Gaben

deren königliche:

anvertrautes Leid.

                    Klaus Hemmerle