Friedensgesten
Meine Ausrüstung
”Friedensgesten” am 12.05.2003
Morgenandacht im DeutschlandRadio Berlin
“Brücken bauen”
Voller Begeisterung und mit geballter Aufmerksamkeit hatte Nikolina Morgen für Morgen in unserem Aufbaucamp in Sarajevo an den Tageseinstiegsrunden teilgenommen. Sie hatte den kurzen Impulsen
zugehört, wenn sie nicht gerade als Übersetzerin tätig war. Während des bosnischen Krieges war sie mit ihrer Familie 4 Jahre lang in Deutschland gewesen und danach in eine völlig zerstörte
Lebenswirklichkeit hinein zurückgekehrt. Jetzt hielt sie als 15-jährige Ausschau nach etwas, wofür es sich zu leben lohnt.
Ein Tagesmotto im Aufbaucamp war gewesen: Selig die Frieden stiften! Dieses Motto hatte sich bei Nikolina besonders in ihre Erinnerung eingegraben, da die Situation in den Vororten von Sarajevo jetzt
nach dem Krieg nicht leicht ist. Menschen mit zerstörten Lebensträumen und verworrenen Lebenslinien treffen hier in einem Gebiet aufeinander, wo vieles auch von den äußeren Umständen her noch lange
nicht geklärt ist. Die überall spürbare Hoffnungslosigkeit entlädt sich oft in Aggression und unkontrollierten Gefühlsausbrüchen, die schnell zu neuem Unfrieden im Kleinen führen.
Nach dem Camp hielt Nikolina über Email Kontakt. In einer dieser Emails erzählte sie: “Ich bin heute ganz glücklich aus der Schule wiedergekommen. Für unsere Religionsstunde heute morgen mußte ich
mit einer Freundin etwas zum Thema “Pubertät” vorbereiten. Wir hatten uns echt Arbeit gemacht. Die meisten meiner Klassenkameradinnen machten richtig gut mit. Aber ein Mädchen unserer Klasse, schoss
immer wieder quer, das tut sie schon lange, weil sie es sehr schwer hat mit sich selber.
In einem Augenblick der Stunde griff sie eine andere Klassenkameradinnen mit Worten an und verletzte sie richtig. Diese reagierte sauer und sofort kippte die ganze Stunde. Ich merkte, wie der Friede
unter uns bedroht war und wie alle zu beschwichtigen suchten. Aber es half nicht viel. Ich erinnerte mich an eines unserer Mottos aus dem Friedenscamp: Selig, die Frieden stiften! Ich hatte damals
kapiert: Wenn wir uns für den Frieden engagieren, werden wir die Freude und den Frieden Jesu finden. Denn das hatte er uns ja versprochen.”
Nikolina führ fort: “Ich merkte: Das ist jetzt meine Chance. Ich ging zu den beiden hin und fragte die Streitanstifterin: ‘Hast du gemerkt, wie sehr deine Worte Ivana, das andere Mädchen, verletzt
haben?’ Zu meinem Erstaunen reagierte sie nicht sauer, sondern nickte. Dann fragte ich Ivana, ob sie verstehen könne, wie ihre Negativreaktion, das erste Mädchen weiter in Rage gebracht habe. Auch
sie reagierte total verständnisvoll. Und dann gingen die beiden vor den anderen aufeinander zu. Sie entschuldigten sich beieinander. In diesen Augenblicken - so sagte die junge Bosnierin weiter -
hatte ich eine total große Freude in mir. Wirklich unbeschreiblich! Später verstand ich warum. Ich hatte zum ersten Mal aktiv für den Frieden in meinem Land gelebt.
Am nächsten Tag erfuhr ich, so schrieb Nikolina weiter, dass das Mädchen, das den Streit angezettelt hatte, sich nach dem Tagesmotto erkundigt hatte. Sie hatte gesagt: Sie wolle auch so leben wie
Nikolina.
Mir ist diese Erfahrung aus Sarajevo sehr nachgegangen. Der Friede ist nicht automatisch. Er will erlitten, erkämpft und errungen sein. Frieden geht, so lehrt mich Nikolina, wenn wir all unsere
Fantasie einsetzen, um Brücken zu bauen. Also für heute: Brücken bauen!
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”Friedensgesten” am 13.05.2003
Morgenandacht im DeutschlandRadio Berlin
“Einander nahe sein”
”Nein, nein, leicht war das nicht, aber ich konnte nicht anders!” sagte er mir am Telefon. Seit knapp 4 Jahren war er nun in Deutschland und hatte mit vielen Widrigkeiten zu kämpfen gehabt. Und
leicht war’s für ihn erst recht nicht gewesen, in unserem Land Fuß zu fassen. Mut gemacht hatte ihm, einem jungen bosnischen Studenten, sein unerschütterlicher Glaube, den er sich aus seinem
krisen-geschüttelten Land bewahrt hatte.
Oft sagte er mir lachend: “Ich bin der Meinung, das Leben ist wunderbar und lebenswert. Vieles ist total schwer. Du weißt ja, mein Dorf ist im Krieg völlig zerstört worden. Meine Familie mußte
fliehen. Wir sind auseinander getrieben worden. Viele von uns haben’s nicht geschafft, sind jetzt arbeitslos und ohne wirkliche Existenzgrundlage. Mein Elternhaus ist immer noch kaputt. Mein Eltern
stehen kurz vor dem Ende ihres Lebens vor dem Nichts. Und dennoch, irgendwie finden wir immer wieder einen Weg. Oder besser: Es findet sich ein Weg. Oder noch besser: Er findet einen Weg uns zu
helfen.” Fast kindlich lacht er dabei, dieser junge Mann aus dem krisengeschüttelten Bosnien. Und dann wiederholt er - fast sinnierend - noch einmal: Ja, das ist es! Er findet einen Weg für uns. Wir
waren getragen - während des Krieges von einem Anderen, der größer ist als wir und wir sind getragen und ich bin mir sicher, wir werden es auch in Zukunft sein!”
Wir schwiegen einen Augenblick. Dann begannen wir zu scherzen. Wie geht’s denn? Gehst du noch oder wirst du schon gegangen? “ - ”Oh Meistre” ; rief er lachend aus. “Ich muß dir was sagen. Letzten
Samstag war wieder so ein Augenblick, an dem ich kapiert hab, wozu wir gerufen sind. Es war spät geworden. Ich kam aus einer Studentenkneipe. Um zu meiner Wohnung zu kommen, mußte ich noch den
Nachtbus nehmen. Eine Menge Leute - jung und alt - standen an der Haltestelle und warteten auf den Bus. Es war eiskalt. Keiner sagte was.
Ein Mann mittleren Alters kam auf die Bushaltestelle zu gegangen. Er sprach nur wirres Zeug. Er erzählte, er sei gerade aus einem Krieg heimgekehrt und schilderte uns haargenau, wie grausam es da
zugegangen war. Dann sprach er wieder von der Wissenschaft, die ihn interessierte und dann von der Raumfahrt. Dann kam seine Familie dran und kurze Zeit darauf sein Beruf während des Zweiten
Weltkrieges. Angeblich war er in der U-Boot-Flotte eingesetzt gewesen. Er begann zu lachen und zu weinen.
Die Leute an der Bushaltestelle hielten gebührenden Abstand. Allen schien es peinlich zu sein, wie dieser Mann jegliche Distanz aufgab.” Berislav, so der Name des jungen Mannes, erzählte weiter:
“Ganz leicht fiel mir das auch nicht. Aber ich verstand sofort: Das ist ein ganz armer Schlucker, dem mittlerweile alle aus dem Weg gehen. Der hat keinen mehr. Während ich das dachte, fiel er mir um
den Hals. Mit seinem Speichel beschmutzte er meine Jacke, ohne das zu merken. Ich kämpfte mit mir, aber immer und immer wieder kam mir die Aufforderung Jesu in den Sinn, diesen Gestrauchelten nahe zu
sein. Er hatte uns ja zugesagt, dass all das, was wir einem der Geringsten getan hätten, er als für sich getan sehen würde.
Mit aller physischen und psychischen Kraft hielt ich den geistig verwirrten Mann im Arm. Er begann zu weinen und zu schluchzen, dann wieder zu lachen. Dann sprach er immer wieder vom Taxi und wo er
hin wollte. In seinen Papieren zeigte er mir seine Adresse. Dorthin wollte er jetzt fahren. Wieder fiel er mir um den Hals. Abermals rann sein Speichel auf meine Kleidung. Ich spürte, so erzählte der
junge Mann weiter, wie schwer es ist, diesen Gestrauchelten und Krank-gewordenen nahe zu sein.
Wir bestellten ihm ein Taxi. Kurze Zeit später kam es. Ich kratzte mein Geld zusammen, um für diesen Armen das Taxi zu bezahlen. Es reichte gerade noch. Der verwirrte Mann setzte sich in den Wagen.
Aber bevor er abfuhr stieg er noch einmal aus dem Wagen und nahm mich in den Arm. In diesen Augenblicken merkte ich, diese meine menschliche Solidarität mit seinem Schicksal hatte sein Herz
berührt.”
Ganz gebannt hatte ich dem jungen Studenten zugehört. Ich fragte mich selber, ob ich auch dazu bereit gewesen wäre, diesem Kranken so nahe zu sein, wie es dieser junge Mann gewesen war. Ich erinnerte
mich an die Geschichte des barmherzigen Samariters. Jesus hatte sie seinen Gefährten erzählt als Antwort auf die Frage: Wer ist mein Nächster?
Dieser junge Mann hatte seine Antwort gegeben. Wie mit einer Messschnur abgemessen, hatte er den als Nächsten erkannt, der ihm wirklich am nächsten kam. Ihm war er nahe gewesen. Ihm hatte er sich
solidarisch gezeigt. Ich gespannt, wer mir heute Nächster sein wird!
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”Friedensgesten” am 14.05.2003
Morgenandacht im DeutschlandRadio Berlin
“Einander aushalten”
Ich sitze am Schreibtisch. Die Post des Tages wird ins Büro gebracht. Oft sind eine Menge Zeitbomben drin, Briefe, die viele Stunden Arbeit und bündelweise Nerven kosten. Aber oft kommen eben auch
Briefe, in denen sich einzelne Menschen tief in ihr Herz hinein schauen lassen.
Ein Brief ist mir lange nach gegangen. Eine mittlerweile pensionierte Frau, die in ihrem eigenen Leben mehrere Schicksalsschläge hinnehmen und verarbeiten mußte, schrieb mir nach langen Jahren,
die wir nichts voneinander gehört hatten. Sie erzählte, wie die Botschaft des Evangeliums für sie zum Leitfaden für ihr Leben geworden war. Und dann wurde sie konkret. Sie schrieb.
“Vor gut sieben Monaten lernte ich eine alte, kranke Frau in einem Rollstuhl kennen. Sie haderte mit jedem Menschen, der ihr begegnete: Ärzte, Pfleger, Mitpatienten, Betreuer. All die Menschen um sie
herum waren ihrer Meinung nach böse, abgrundtief böse. Für sie waren alle Menschen Verbrecher und Betrüger. Bei einer Arzt-Visite sagte sie. ‘Ich weiss nicht, ob ich lebe, um jämmerlich zu sterben
oder ob das, was ich lebe, schon der Tod ist! Gott gibt es nicht! Ich werde nie mehr beten!’ Es wurde immer schlimmer. Diese alte Frau stritt und schrie im Krankenhaus herum, manchmal für eine
Scheibe Weißbrot. Keiner wollte dieser Frau mehr nahe kommen. Unter dem Krankenhauspersonal war sie verständlicherweise der ‘Schreck der Nation’.”
Weiter las ich in dem Brief: “Ich war fest entschlossen, dieser alten Frau anders zu begegnen, als sie es provozierte und das, obwohl sie mir direkt gesagt hatte, sie möge mich nicht, weil meine
Schuhe zu laut seien. Ich nahm mir vor, dieser Frau mit Liebe zu begegnen und ich sagte ihr: ‘Es gibt Menschen, die an Gott und die Liebe glauben und genau das werde ich ihnen beweisen!’
So fuhr ich zunächst regelmäßig mit ihr im Krankenhauspark spazieren, besorgte ihr Kleidung aus meinem Bestand, spendierte ihr ab und zu ein Eis oder ihren geliebten Kuchen. Eines Tages brachte ich
sie auch mal in die Krankenhauskapelle, die sie trotz ihrer vielen Krankenhausaufenthalte noch nicht kannte. Wir blieben einige Zeit in der Kapelle, z.T. schweigend und staunend. Dann und wann gab
ich ihr für ihren Krankenhausalltag kurze Texte. Es entwickelte sich ein echtes Miteinander, so dass ich ihr nach Wochen anvertrauen konnte, dass ich mir persönlich ein Leben ohne Gott nicht
vorstellen könne.
Und dann - so las ich in dem Brief - wurde die alte Frau entlassen. Sie kam in ein Altenheim. Ich besuchte sie auch weiterhin regelmäßig. Inzwischen werde ich immer ‘vorgeführt’. Der Kontakt zu
mir, ist dieser alten Frau total wichtig geworden und ich bin glücklich darüber, dass sie nun mit mir und ohne mich betet.”
Dieser Brief ist mir lange nach gegangen. Ich habe ihn immer wieder gelesen, so sehr hat mich das stille Zeugnis dieser Frau berührt. Welche Geduld und Friedensbereitschaft hat sie in die Beziehung
zu dieser alten verbitterten Frau eingebracht! Mit welcher Geduld ist sie ihr von Tag zu Tag neu begegnet. Ich hatte den Eindruck: Hier lese ich lebendiges Evangelium. Mir kam die Einladung Jesu aus
seiner Bergpredigt in den Sinn. “Wenn dich einer zwingt, eine Meile mitzugehen, geh zwei mit! Aus diesen zwei Meilen - so schien mir - sind bei der Briefschreiberin unzählige Meilen geworden. Sie hat
mir eine echte Friedensgeste nahegebracht. Frieden wird, wenn wir einander aushalten, Tag für Tag neu. Ich werd mich mühen, für den heutigen Tag diesem Ideal zu folgen! Also: Halten wir
einander aushalten!
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”Friedensgesten” am 17.05.2003
Morgenandacht im DeutschlandRadio Berlin
“Meine Zeit verschenken”
In einer Studentengruppe kamen wir ins Gespräch über Lebensgeschichten, die uns berührt haben und uns Beispiel geworden sind. Eine Studentin berichtete von einer Erfahrung, die ihr in ihrem Alltag
zugespielt worden war.
Sie erzählte: “Auf dem Heimweg zu meiner Studentenwohnung sah ich vor mir eine Rollstuhlfahrerin. Mit ihren Füßen versuchte sie, sich mühsamst voran zu stoßen. Mir kam die Idee, diese Frau
anzusprechen und ihr meine Hilfe anzubieten. Aber mein zweiter Gedanke bremste mich: Vielleicht würde die Frau mein Hilfsangebot als Verletzung empfinden und meine Hilfe ablehnen. So ging ich
innerlich gebremst an ihr vorbei.
Doch während ich an ihr vorbei ging, sprach sie selbst mich an: ‘Können sie mir helfen und mich zur Bushaltestelle bringen? Ich muß den nächsten Bus erreichen, um nach Hause zu kommen.’ Zunächst, so
erzählte die Studentin, spürte ich einen echten Ärger über mich selber: Warum hatte ich es nicht selber geschafft, ihr meine Hilfe anzubieten? Warum hatte ich mich von den Zweifeln so beirren lassen?
Aber jetzt war eine neue Situation. Sofort willigte ich ein.
Ich schob die Frau im Rollstuhl die Straße entlang und kam mit ihr ins Gespräch. An der Bushaltestelle zeigte sich, dass der Bus erst in 10 Minuten kommen würde. Ich beschloss zu warten, um der Frau
beim Einsteigen in den Bus behilflich zu sein. So erfuhr ich viel von ihrem Leben.
Einmal in der Woche kommt sie in die Stadt Paderborn, um dort ihre 96jährige Mutter im Altenheim zu besuchen. Für den Hinweg leistet sie sich ein Taxi, auf dem Rückweg nimmt sie den Bus, weil’s
billiger ist. Ein zweites Taxi für den Tag gibt ihre schmale Rente nicht her. Sie selbst, die sie auf den Rollstuhl angewiesen ist, ist das einzige noch mobile Mitglied der Familie. Ihr Mann ist nach
einem Schlaganfall ans Bett gefesselt und lebt in einem Pflegeheim 30 Kilometer entfernt. Sie selbst lebt ebenfalls 30 Kilometer entfernt in einem Seniorenheim, da sie nach einem
Krankenhausaufenthalt ihren Haushalt aufgeben mußte.”
Ganz bewegt erzählte die Studentin weiter: “Ich war getroffen von der Lebenssituation dieser Familie und fasziniert von dieser Frau, die wöchentlich diese Strapazen auf sich nahm, um ihre Familie
zusammen zu halten. In ihrem Erzählen war kein Klagen über ein ungerechtes Schicksal zu spüren, auch kein Hadern mit Gott. Vielmehr hatte sie ihre schwere Situation angenommen und gestaltete ihr
Leben und das ihrer Familie mit all ihren Kräften. Der Bus traf ein. Ich half der alten behinderten Frau, den Bus zu besteigen. Das war gar nicht so leicht, aber gemeinsam ging’s. Wir
verabschiedeten uns, ein Winken und der Bus fuhr ab.
Die junge Studentin blieb zurück mit einer großen Freude im Herzen. Diese 10 Minuten verschenkte Zeit haben eine Menge ausgelöst, im Nachdenken der Helferin und bei denen, denen sie diese Erfahrung
weiter erzählt hat. Das konkrete Leben dieser alten behinderten Frau scheint mir wie ein Schlüssel zum Leben. Egal, wie es mir geht und egal wie vergleichsweise schlecht es um mich bestellt sein mag,
was immer geht: Ich kann mich einsetzen für andere, kann meine Zeit, Kraft und Phantasie verschenken. Dieser Lebensspur gilt es zu trauen und zu folgen. Auch heute neu. Also: Meine Zeit
verschenken.
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”Friedensgesten” am 16.05.2003
Morgenandacht im DeutschlandRadio Berlin
“Den Fremden an mich heranlassen”
Es ist spät abends. Mein Telefon klingelt. Ein junger Student aus Sarajevo ruft an. Mittlerweile ist er seit gut drei Jahren in Deutschland. Monat für Monat bekommt er wie viele andere junge Leute
eine kleine ein-laminierte Scheckkarte. Drauf steht ein Wort aus der Bibel. Jeder Blick auf diese Karte ist eine Einladung, das Wort zu tun. Die Karten baumeln an Motorradlenkern und stecken in
Portemonnaies. Sie kleben an Computerscreens und liegen auf Küchentischen, sie erinnern auf stillen Örtchen und stecken in Schüleretuis...
Aber mein Telefon klingelte ja. Fast ein wenig verlegen erzählt der junge Student: “Du, Meinolf, ich muß dir dringend etwas erzählen. Du weißt, seit meiner Kindheit habe ich in dem Konflikt unserer
verschiedenen bosnischen Ethnien drinnen gesteckt. Ich selber bin bosnischer Kroate und habe viel unter den Schikanen der Serben gelitten. Mein ganzes Dorf ist während des letzten Krieges in Bosnien
durch zwei Angriffswellen der Tschetniks zerstört worden. Haus für Haus ist platt gemacht worden.
Weißt du, fragte mich der junge Mann, in den vergangenen Tagen rief mich ein serbischer Theologiestudent an. Er hatte Stress mit seinen Eltern und ist deshalb aus der elterlichen Wohnung
herausgeflogen. Jetzt stand er auf der Straße und suchte für die nächsten Tage und Wochen eine Bleibe.
Der junge Student erzählte weiter: Ich dachte an die Goldene Regel des Evangeliums: “Was du dir vom anderen für dich getan wünscht, das musst du auch für ihn tun.” Oder volkstümlich ausgedrückt: “Was
du nicht wünscht, was man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.” Ich überlegte. Wenn ich in seiner Situation wäre, würde ich mir wünschen, in ein Studentenzimmer aufgenommen zu werden. Aber ich
hatte doch nur ein Mini-Zimmer. Doch das Wort des Evangeliums war total lebendig. Ich spürte: Jetzt kannst du’s tun, wenn du willst!, berichtete mir der Freund aus Bosnien.
So bot ich als Kroate ihm an, für die nächste Zeit in meinem kleinen Studentenzimmer mit unter zu kommen. Er kam mit all seinen Sachen, wir teilten 14 Tage lang das Zimmer. Eine Nacht schlief er in
meinem Bett und ich im Schlafsack auf der Luftmatratze, in der nächsten Nacht machten wir es umgekehrt. Nach 14 Tagen war die Atmosphäre in seiner Familie wieder so weit geklärt und er konnte
zurückgehen.”
Diese Erfahrung, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer ist weiter gegangen. Die beiden Studenten haben einander nicht aus den Augen verloren. Vor ein paar Wochen hörte ich, dass sich der serbische Student
nochmals bei dem jungen bosnischen Kroaten gemeldet hat. Er hatte erzählt, wie er in München von einer katholischen Pfarrei mit großer Freundlichkeit für ein paar Tage aufgenommen worden war. Und
dann hatte er am Telefon gesagt: “Weißt du, ich wäre nie in eine katholische Gemeinde gegangen, denn als Serben haben wir kein gutes Bild von euch!. Ich wäre nie hingegangen, wenn du mir nicht damals
deine Hilfe und deine Freundschaft angeboten hättest. Wir müssen echt in Kontakt bleiben!
Der Mut, den Fremden - oft sogar den “Feind” - an mich heran zu lassen, kostet alles an Energie und Kraft. Leicht ist das nicht. Aber vielleicht ist es der einzige wirkliche Weg, Mauern und Gräben
zwischen Menschen und in den Köpfen einzureißen und neue Geschichte zu schreiben. Also für heute: Den Fremden an mich heranlassen.
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”Friedensgesten” am 15.05.2003
Morgenandacht im DeutschlandRadio Berlin
“Füreinander einstehen”
Ein grausamer Bürgerkrieg hatte sie in unser Land gebracht, einer der vielen, die in den vergangenen Jahren auf dem afrikanischen Kontinent getobt hatten. Hutu und Tutsi hatten sich bekämpft.
Unzählige Opfer hatte es auf beiden Seiten gegeben. Über eine Millionen Tote. Kaum eine Familie, die nicht betroffen war. Und jetzt waren viele Familien auseinander gerissen. Viele wussten gar nicht
ob und wenn ja wo ihre Familien-Angehörigen lebten. Unsagbares Leid - und eine Zukunft, die völlig vernagelt schien.
Ein junger ruandesischer Arzt war auf die Idee gekommen, Flüchtlinge aus Ruanda, die es in die mitteleuropäischen Länder verschlagen hatte, einzuladen, um nach einem gemeinsamen Weg in die Zukunft
Ausschau zu halten. Mich hatte er angefragt, einige Gedanken des Evangeliums vorzutragen, die den Boden für erste Schritte zur Versöhnung bereiten sollten.
Es war Freitag abend. Von weit her kamen sie angefahren, aus Belgien und Luxembourg, aus der Schweiz und Frankreich und aus allen Teilen Deutschlands. Ich wußte nicht, wer zur Gruppe der Hutu und wer
zur Gruppe der Tutsi gehörte. Der Ort des Treffens war ein kleines sehr wohnlich hergerichtetes Bildungshaus. Zaghaft muteten die Begrüßungsriten zwischen den einzelnen an. Über allem lag ein
bleiernes Schweigen. Der Schmerz, den jeder und jede in den vergangenen Jahren am eigenen Leib durchgemacht und durch getragen hatten, war deutlich zu spüren. Aber genauso deutlich war der Wille, die
vor ihnen liegende Zukunft gemeinsam zu gestalten, zu spüren.
In kleinen Gesprächsgruppen bei Tisch baute sich langsam ein Klima des Vertrauens auf. Aber über allem lag die bange Frage: Wie sollten wir mit dem Thema umgehen, dass so viele Unschuldige aus den
einzelnen Familien und Clans gestorben waren. Wie sollte dieses unsagbare Leid neues Leben geboren werden lassen? Diesem Leid war oft nur schweigend und mit ganz behutsamen Gesten zu begegnen.
Für den Abend war ein schlichtes Abendgebet angesetzt. In einen großen Raum hatten wir zwei sich kreuzende Tapeten gelegt. Sie waren Symbol für das Kreuz. Jeder Teilnehmende war eingeladen, all die
Namen derer auf die Tapete zu schreiben, die er oder sie gekannt hatten und die im Krieg umgekommen oder ermordet worden waren. Und wer wollte, konnte noch eine Kerze für die Verstorbenen
anzünden.
Zaghaft und zögernd begannen einzelne. Sie schrieben Namen um Namen. Es schien, als kämen sie an kein Ende. Schweigend setzten sich andere Ruandesen dazu und schrieben ihre Namenskette. Es waren
ergreifende Augenblicke. Die Tapeten füllten sich mit den Namen deren, denen das Leben auf der Erde verwehrt worden war. Einige Gesichter der Schreibenden ließen keine Gefühlsregung erkennen, bei
anderen sah ich Tränen in den Augen. Wieder andere verließen kurzzeitig den Raum und kamen zurück. Ein alter Mann, der unzählige Namen geschrieben hatte, zündete ein kleines Teelicht an für “seine
Leute”. Lange schaute er - ohne sich zu bewegen - in das Licht. Ich hatte den Eindruck, in diesem Licht sieht er die Seinen, die wir nicht mehr sehen konnten.
Ich selber sass schweigend mit diesen Afrikanern -mitten in ihr Leid hineingewoben. Ich spürte einen unsäglichen Schmerz, aber zugleich einen tiefen Frieden. Zurückzuholen und gut zu machen war hier
nichts mehr. Aber ich verstand: Hier wurde eine Solidarität im Leid gelebt. Jeder hatte seinen persönlichen Schmerz, den ihm niemand abnehmen konnte, aber darin waren sie sich nah.
Oft, wenn das Leid und der Schmeruz übermächtig zu werden drohen, geht vielleicht nur noch das, schweigend einander und Gott das eigene Leid hinhalten und es nicht verkrampft und verbittert fest
halten. In dieser Nacht hatte ich den Eindruck: Hier ist Frieden geboren worden, weil Menschen einander in aller Behutsamkeit ihre Wunden gezeigt haben. Es scheint mir etwas vom zutiefst Schwersten
und zugleich zutiefst Menschlichen zu sein: Einander im Schmerz nahe zu sein.