Tod gebiert Leben

Morgenandacht im WDR

Montag, 06.04.1998

 

Verwandlungen - Tod gebiert Leben - mein Patenonkel Karl



Im vollen Galopp der Arbeit klingelt das Telephon. Meine Schwester meldet sich. An ihrer Stimme merke ich sofort: Sie hat mir eine traurige Nachricht zu übermitteln. Mein Patenonkel ist tot. Beim Mittagessen umgefallen. Sekundentod. So haben’s die schnell herbeigerufenen Notärzte festgestellt. Mitten aus dem Leben gerissen - ohne Warnzeichen - gerade mal 62 Jahre.
Konkrete Hilfe kann ich in diesen Augenblicken nicht leisten. Zu weit wohne ich entfernt. Zunächst tue ich meine Arbeit scheinbar normal weiter. Aber meine Gedanken lassen sich nicht auf die Arbeit hin bündeln. Immer wieder wandern sie zu meinem Onkel!

Er stammte aus einem kleinen westfälischen Dorf und war dort auch mit seiner Familie geblieben. Er war Waldarbeiter. Große Sprünge konnte er finanziell nie machen. Er war beliebt in seinem Dorf, weil er mit seinem lauteren Charakter mit jedem Frieden hielt. Jeder war bei ihm willkommen. Er gab, was er geben konnte: seine Zeit, seine Erfahrungen, seinen Frohsinn, sein Geld. Ohne Worte sagte mir sein Leben: “Wenn du mich brauchst, bin ich da!”
Wir sahen uns selten und doch spürte ich ihn sehr nah. Eine Art Seelenverwandtschaft. Vor allem in den letzten Wochen vor seinem Tod hatte ich häufig an ihn denken müssen. Immer wieder hatte es Augenblicke gegeben, in denen sein Bild plötzlich vor meinem inneren Auge auftauchte. So war mein Entschluß gereift, ihn zu seinem Geburtstag zu besuchen. Zwei Tage vorher starb er.

Sein Tod verwies mich neu auf diese “inneren Impulse”. Es sind Ideen und Gedanken, die auf einmal da sind und uns zum Handeln drängen. Oft verbirgt sich hinter dieser “inneren Stimme” ein Plan, der nicht von Menschenhand gemacht ist.  Im Rückblick läßt sich das verstehen.

Ich mußte zurückdenken an eine Begegnung mit meinem Onkel kurz nach dem Abitur. Nach langem Zögern und vielen Zweifeln hatte ich mich entschieden, Priester zu werden. Als wir uns trafen erzählte ich ihm von meiner Entscheidung, aber auch von all den Zweifeln. Nach seiner Meinung gefragt sagte er mir: “Weißt Du, wenn Du das spürst, dann mußt Du’s tun!”
Diese Ermutigung hat mich Zeit meines Studiums begleitet. Sie hat mich gelehrt, auf das zu achten, was in mir lebt. Ich habe gelernt, mit Freunden über diese inneren Impulse zu sprechen, um nicht der Gefahr zu erliegen, den eigenen Vogel für den Heiligen Geist zu halten. Aber bei all dem bleibt: “Wenn Du’spürst, dann mußt Du’s tun!”

 

 

 

 

Morgenandacht im WDR

Dienstag, 07.04.1998

 

Verwandlungen - Tod gebiert Leben - Julio

Ich habe ihn nie kennengelernt und doch ist er mir nah. Ich spreche von Julio, einem drogenabhängigen Jugendlichen aus Brasilien. Er starb am 7. Juli 1989 bei einem Arbeitsunfall.

Ort des Geschehens war die “Fazenda da esperanza”, die Farm der Hoffnung im Staat Sao Paulo. Auf diesem Hof leben drogen- und aidskranke Jugendliche zusammen, um für ihr Leben neue Hoffnung zu finden. Sie alle waren Strandgut der Gesellschaft.
Auch für Julio begann mit 14 Jahren sein Leidensweg: Alkohol, Drogen, Raub. Nach 10 Monaten Gefängnis bekam Julio die Chance, den Rest seiner Strafe im offenen Vollzug auf der Fazenda da Esperanza zu verbringen. Nach wenigen Monaten scheiterte er und rutschte zurück ins alte Milieu. Er kam an den Rand des Todes. In der “Freiheit” ging es ihm schlecht.
Er wurde ein zweites Mal aufgenommen. Dieses Mal krempelte er sein Leben um. Es war als kehrte das Leben in ihn zurück. Mit großer Einfachheit eroberte er das Leben der anderen Drogenabhängigen.
Schon bald bekam er die Verantwortung für eine Gruppe Drogenabhängiger. Er lebte mit ihnen in einem kleinen Haus zusammen. Jeden Morgen stand er eine Stunde früher auf als die anderen, um für seine Leute zu beten. Mit seiner konkreten Art zu helfen und Zeit für jeden zu haben, steckte er die andern an. Am 7. Juli 89 arbeitete er auf dem Feld. Er eilte einem seiner Freunde zu Hilfe, der am steilen Abhang mit dem Traktor pflügte. Der Trecker stürzte um und erschlug Julio.
Ein harter Schlag für die Fazenda. Der Tag der Beerdigung wurde trotz der Trauer zu einem Fest. Jeder spürte, daß Julio nicht gänzlich tot war, sondern daß er ganz anders als vorher weiterlebte. Am offenen Grab sagte Julios Mutter: “Danke für die Blume, die ihr für den Himmel bereitet habt. - Damit meinte sie ihren Sohn, der durch das gemeinschafliche Leben auf der Fazenda für den Himmel vorbereitet war. - Julio, meinen Sohn, konnte Gott schon rufen. Meine anderen Kinder noch nicht.”
Von diesem konkreten Leben erzählt auch Julios Tagebuch: “Heute habe ich getan, was ich konnte. Als ich aufstand hatten wir kein Wasser im Haus und ich mußte zur Quelle gehen. Am Anfang wollte ich nicht. Aber ich erinnerte mich an die “goldene Regel”, dem anderen das zu tun, was ich mir auch von ihm wünschen würde. So bin ich gegangen, um den Wasserfluß in Ordnung zu bringen. Es stimmt, die Liebe besiegt alles... Ich hab’ es auch fertig gebracht, das Abendessen zu kochen und darüber war ich sehr glücklich. Ich habe heute viel geliebt, aber ich vergesse die Einzelheiten. Aber Gott weiß das ja.”
Mich fasziniert die Konkretheit und Direktheit von Julios Verhalten. Die Jungen auf der Fazenda begannen sofort nach Julios Tod, genauso konkret zu leben, wie er es getan hatte. Ihr Tun war Frucht seines Lebens. Mir macht das Mut, mein Leben genauso zu gestalten. 

 

 

 

 

Morgenandacht im WDR

Mittwoch, 08.04.1998

 

Verwandlungen - Tod gebiert Leben - Hubertus

31. Juli 96. Mein Fax-Gerät beginnt zu rattern. Der Inhalt des ankommenden Faxes verschlägt mir den Atem. “Hubertus Zimmermann ist bei einer Wanderung in den Walliser Bergen tödlich verunglückt. Er war 56 Jahre alt. Vereinen wir uns im Gebet für ihn und mit ihm.”
Diese Botschaft reißt mich aus aller Alltäglichkeit heraus. Meine Gedanken beginnen zu wandern an all den Wegetappen entlang, die ich mit ihm zusammen gegangen bin.
Mit Leib und Seele war er Priester. Groß geworden in den Schweizer Bergen, blieb er Zeit seines Lebens in ihnen verwurzelt. Fast wie im Zimmer nebenan höre ich noch sein von Herzen kommendes Lachen. Ich höre noch seine Witze und Scherze, die er immer auf Lager hatte, wenn es jemanden aufzumuntern galt.
Lebhaft erinnere ich mich an eine Fahrt nach Rom. Ein älterer Priester, der stark an Depressionen litt, war mit von der Partie. Hubertus saß eine ganze Zeit neben ihm. Die beiden kamen darüber ins Gespräch, daß jeder Mensch einzigartig ist. Jeder bringt seinen Schatz und seine Macken in die Gemeinschaft ein.
Um das zu verdeutlichen erzählte Hubertus scherzhaft von einem jungen Kaplan, der stets sein Handi bei sich trug und sich in jeder Konferenz ärgerte, wenn er nicht angerufen wurde. Also vereinbarte er mit einem Kollegen, dieser solle ihn doch nachmittags zu einer bestimmten Uhrzeit anrufen. Zur vereinbarten Zeit saß er gerade in einer Konferenz. Der Anruf kam wie geplant. Sich aufblähend nahm der junge Kapaln den Handi und bat den Anrufenden: “Ach bitte, könnten Sie in einer Stunde nochmals anrufen. Ich bin gerade in einer wichtigen Konferenz!” Voll sichtlicher Genugtuung legte er den Handi wieder hin. Plötzlich beginnt ein älterer Priester neben dem jungen Kaplan nach allen Regeln der Kunst zu würgen. Hilfsbereit fragt der Jüngere ihn: “Kann ich Dir helfen?” - Dessen Antwort: “Oh, nein, das geht gleich wieder. Aber ich glaub’, ich krieg ein Fax.” Ich hör’ heute noch das Lachen des depressiv gestimmten Priesters.
Es war genau diese Fähigkeit von Hubertus, die mir in den Minuten nach der Todesnachricht am meisten bewußt wurde. Er verstand es meisterhaft, Menschen aus sich selber herauszulocken, so daß der Raum zwischen ihnen auf einmal mit Freude ausgefüllt war. Und genau das war sein Geheimnis. Er sagte mir einmal: “Weißt du, Meinolf, es ist wirklich die Liebe, die alles verwandelt. Und die echte Liebe läßt dich immer beim anderen sein. Und wenn dieses Beim-Andern-Sein zwischen zwei oder mehreren Menschen gegenseitig wird, dann bricht auf einmal diese Freude auf. Und das ist Gott, der heute so bei uns sein will.”
Über seinen Tod hinaus bleibt mir der Lebensimpuls von Hubertus: “Echte Liebe läßt dich immer beim anderen sein.”

 

 

 

 

Morgenandacht im WDR

Donnerstag, 09.04.1998

 

Verwandlungen - Tod gebiert Leben - Heiner


Sterile Krankenhausatmosphäre. Es ist spät geworden. Wie an jedem Abend der vergangenen Tage bin ich unterwegs, um Hainer zu besuchen. Er ist Priester. 67 Jahre alt. Sein Gesundheitszustand hat sich seit Weihnachten zunehmend verschlechtert. Ob er nochmals auf die Beine kommen wird? Jetzt ist’s kurz vor Ostern.

Hainer leidet an akuter Luftnot. Zeitlebens hat er täglich über 5 Stunden inhalieren müssen. Sein Leben war kein Zuckerschlecken und dennoch ging von ihm eine große Lebensfreude aus.
Ich gehe in sein Zimmer. Er ringt um Luft. Schweigend setze ich mich an sein Bett und halte seine Hand. Alles andere wäre zu viel.
Plötzlich nimmt er seine ganze Kraft zusammen, hält den Atem an und sagt mir:”Meinolf, in der Liebe bleiben - das können wir immer!” Dann geht das Ringen um jeden Atemzug weiter. Ich bin ganz getroffen. Mir gehen diese Worte nach - kostbar wie ein Testament. “In der Liebe bleiben - das können wir immer!”

Am folgenden Abend erzähle ich Heiner, wie sehr seine Worte meinen Tag geprägt haben. Mit großen Augen schaut er mich lange an. Erneut nimmt er seine ganze Kraft zusammen, hält den Atem an und sagt: “Ja, immer in der Liebe bleiben, denn nicht lieben - das ist die Hölle!”
Augenblicke später kommt eine Krankenschwester ins Zimmer. Sie wirkt überarbeitet und gereizt. Sofort hält Heiner ihr seinen Arm entgegen. Sie gibt ihm die abendliche Beruhigungsspritze.
Ich erlebe diese alltägliche Krankenhausszene und verstehe auf einmal. Hätte Heiner über die Schwester geurteilt “Warum ist die nur so kiebig! Die könnte ja auch mal freundlicher sein!”, so wäre er in diesem Urteil gefangen gewesen. Die Kraft es rauszuschreien war ihm nicht mehr gegeben. Solche Urteile sind dann wie ein Käfig. Man kommt nur noch schwer heraus. Und das ist wirklich die Hölle, gefangen zu sein in sich selber!

Heiner hingegen hielt seinen Arm für die Spritze hin. Eine Mini-Geste! Sie zeigte mir: Noch im Sterben ging er den Weg des Anderen mit. Wenige Stunden später ist Heiner gestorben. Seine Beerdigung wurde bei aller Trauer zu einem Fest des Miteinanders. Wildfremde Menschen saßen beieinander und erzählten, was sie ihrerseits durch Heiner verstanden hatten.
Ich trage seither sein letztes Wort an mich wie einen Kleinod in mir:”In der Liebe bleiben - das können wir immer!”

 

 

 

 

Morgenandacht im WDR

Samstag, 11.04.1998

 

Verwandlungen - Tod gebiert Leben - Kalle

Die tägliche Post liegt auf meinem Schreibtisch. Der Brief eines Gerichtes ist dabei. Ein Justizangestellter fragt im Rahmen einer Bewährungssache nach, ob mir die neue Anschrift von Kalle bekannt sei.
Meine Gedanken beginnen zu wandern. Kalle war ein “Mann der Straße”. Am Weihnachtsabend 93 hatte er plötzlich vor unserer Tür gestanden. Wildfremd! Er wolle mit uns Weihnachten feiern. Seit diesen Tagen hatte er viel Zeit bei uns verbracht und viel mitgearbeitet. Immer nur so lange, wie er’s aushielt. “Wenn die Wildenten ziehen, dann muß ich weg! So ist das eben bei Brüdern der Landstraße!” Als Nomade kam er jedoch immer wieder und rief an, wo er gerade war.

Nun hatte er sich seit 3 Monaten nicht mehr gemeldet. So setzte ich mich ans Telephon, um herauszubekommen, wo er sich gerad’ aufhielt. Über die Polizei aus Hannover fanden wir seine Fährte. Eine dunkle Ahnung bestätigte sich. Kalle war tot. Er starb an einer Überdosis Drogen. Ganz allein. Im Stadtwald von Hannover. Er wurde gefunden, als er bereits tot war. Er ist eingeäschert und in seiner Heimatstadt Leverkusen beerdigt worden.

Diese Nachricht ging wie ein Lauffeuer herum im Jugendhaus, in dem ich arbeite. “Ich bin nicht wie ihr!”, hatte er immer wieder gesagt und doch gehörte er zu uns. Sofort begann mancher Mitarbeiter von Kalle zu erzählen. In einem sehr kalten Winter war er zu einem Kiosk gegangen, um sich etwas zu Essen zu kaufen. Die Verkäuferin erzählte ihm, sie habe kein Holz mehr für ihren Ofen. Sofort war er losgegangen und hatte für das wenige Geld, das er sich erbettelt hatte, Holz gekauft. Er hatte es ihr direkt in die Wohnung gebracht.
Ein anderes Mal sah Kalle, wie ein Farbiger von einigen Skinheads mit Messern in der Hand verfolgt wurde. Unter Einsatz seines Lebens stellte er sich zwischen den Verfolgten und die Verfolger. Der Farbige konnte fliehen.

Äußerlich scheint Kalle gescheitert, nicht vollendet, sondern abgebrochen. Er hat den Kampf gegen die Droge nicht gewinnen können. Seine kaputte Vergangenheit ist nicht heil geworden. Doch gerade in allem Kaputten hat Kalle mir mit seiner direkten Hilfsbereitschaft und Solidarität immer wieder den Spiegel vorgehalten. Auf jede Bitte gab’s für ihn nur eine Antwort: “Na klar, mache ich!” In dieser abrupten Solidarität leuchtete etwas von dem Leben auf, das Kalle immer gesucht hat.

Mich ließ Kalles Leben immer an die bedingungslose Solidartität Gottes mit uns Menschen denken. Diese Solidarität hat auch vor der Dunkelheit des Todes nicht Halt gemacht. Nach Jesu Tod machten seine Freunde die Erfahrung, daß sein Leben auf eine neue Art nd Weise unter ihnen lebendig blieb. Ich bin mir sicher, daß Kalle dieses Leben nun in Fülle erleben und leben wird. Und ich bin mir genauso sicher, daß er die Tür des Himmels für uns alle offen hält.


 

 

 

Gastfreundschaft


Tritt durch den Spalt,

atme de Ordnung,

lerne am Herd

die Würdes des Gastes

und empfang

in der Fülle der Gaben

deren königliche:

anvertrautes Leid.

                    Klaus Hemmerle