"Mit dem Herzen eines Bruders"

Morgenandacht im Deutschlandfunk

18. Juni 2007


„mit dem Herzen eines Bruders“ – Hostensia

Mein Handy meldet sich. Es zeigt an, dass meine Mail-Box eine Nachricht gespeichert hat. Sofort höre ich sie ab. „Hallo father!“ erklingt es von der Box. „Ich wollte dir nur sagen, dass vor 2 Tagen meine Lieblingsschwester in Kamerun gestorben ist. Und ich bin jetzt ganz traurig. Ich habe ganz viel geweint. Bitte bete jetzt für mich!“ Und ehe die Anrufende den Anruf beendet höre ich noch, wie sie weinend „DANKE!“ sagt.
Was für eine Not. Der Anruf kommt von Hostensia, einer jungen Afrikanerin aus Kamerun. Es war ein Traum für sie gewesen, nach Deutschland zu kommen und Medizin zu studieren. Sie hatte sich gefreut wie eine Schneekönigin und war fleißig wie eine Biene. Ihre ersten Studienschritte waren gut gelungen. Die deutsche Sprache hatte sie hervorragend gelernt. Und jetzt saß sie tausende Kilometer von Zuhause allein in einem Studentenwohnheim mit der Botschaft: „Meine Schwester ist tot –
und noch dazu meine Lieblingsschwester!“

Es war sofort klar: Sobald wie möglich wollten  wir sie besuchen. Zwei Tage später schon waren wir auf dem Weg zu ihr. Wir suchten ihr Studentenwohnheim. Es war November – grau, nasskalt, total verregnet. Ein Wetter für Tote! Schließlich standen wir vor einem großen kalten Zement-Wohnblock. Wir fanden den Namen der jungen Afrikanerin auf der Liste der Bewohner. Ich schellte. Ich erwartete eine junge Frau – am Ende ihrer Kraft, verweint und verzweifelt!
Doch als sich die Tür auftat, stand da plötzlich eine junge Frau, strahlend mit freundlichen Augen. Wir setzten uns auf ihre Studentenbude – höchstens 8 Quadratmeter. Was für eine Armut! Ein paar Bücher, ein wenig Kleidung und Geschirr, ein Bett, ein paar Fotos an der Wand und ein Computer. Das war ihr ganzer Besitz. Aber mitten drin saß sie mit uns – und sie freute sich wie eine Königin! „Unglaublich! Dass ihr gekommen seid, mich zu besuchen! Ich freu mich so sehr, ja so sehr!“ rief sie immer wieder aus. Und dann erzählte sie: „Gott liebt mich unendlich! Klar, es ist total schwer, dass meine Schwester gestorben ist. Aber kurz vor ihrem Tod hat mein Vater mich noch angerufen, weil es ihr schlecht ging. Und dann haben Freunde für mich gesammelt, dass ich sie noch einmal besuchen konnte. Und wir haben wirklich über alles gesprochen, wirklich über alles. Und da ging es ihr gut.  Es war noch einmal wie früher! Das hat Gott mir ermöglicht. Er lässt mich nie allein. Das merk ich doch jetzt wieder. Ihr habt von meiner Trauer gehört und seid gekommen. Ich bin nicht allein. Gott sorgt so sehr für mich! Ich weiß gar nicht, wie ich das verdient habe!“

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, fast sprachlos saßen wir auf der Bettkante und hörten dieser jungen Frau zu. Und ich spürte in all dieser Einfachheit und Armut eine Nähe zu Gott bei ihr, wie selten. Dann aßen wir noch in der ärmlichen Küche des Studentenwohnheims Nudeln, Kartoffeln und Gemüse. All das sprach von ihrer Freude und ihrer konkreten Liebe.

Vorsichtig fragten wir, ob sie irgendwelche Wünsche habe, die sie uns sagen könne? Wir erwarteten einige konkrete Bedürftigkeiten. „Ja“, gab sie zur Antwort und fügte dann zögernd hinzu: „Betet bitte für uns, dass unsere Familie immer so zusammenhält, wie sie es tut!“ Wir willigten ein. „Und hast du noch einen Wunsch?“ – „Ja, betet bitte auch darum, dass ich hier in der Situation in Deutschland in all den Schwierigkeiten und Herausforderungen als junge Afrikanerin Gott immer treu bleiben kann!“
Was für ein Glaube! Als wir Heim  fuhren, fühlten wir uns reich beschenkt. Wir waren einem Menschen begegnet, der mehr im Himmel als auf der Erde lebte. Ihren Kopf hatte sie im Himmel – dort las sie göttliche Noten – aber mit ihren Fingern spielte sie auf der Tastatur dieser Erde. Ganz bei Gott und ganz auf der Erde!

 

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Morgenandacht im Deutschlandfunk

19. Juni 2007

 

„mit dem Herzen eines Bruders“ – Vivien

„Du musst dringend kommen!“ höre ich die Stimme eines Mitarbeiters. Wir sind mitten im Trubel der Weltjugendtage im Jahr 2005 in Deutschland. Ich fragte, was los sei? „Hier ist eine junge Frau angekommen, wahrscheinlich aus Lateinamerika, sie steht hier mit ihrem großen Rucksack und sucht nach ihrer Gruppe. Und sie weint unaufhörlich und keiner von uns versteht sie!“
Wenige Minuten später stehe ich vor einer zierlichen jungen Frau aus Brasilien. Verweinte Augen. Schüchtern und scheu. Relativ entkräftet, mit einem übergroßen Rucksack.
Obwohl es schon spät ist, lade ich sie als Brasilianerin noch  auf einen Kaffee ein. Ganz langsam beruhigt sie sich und beginnt zu erzählen. Sie kommt aus Rio de Janeiro und war vor über 3 Wochen nach Berlin aufgebrochen. Dort hatte sie einen englischen Sprachkurs absolviert. Freunde hatten sie dann in den Zug in Richtung Paderborn gesetzt. Denn mit ihrer Gruppe, in der sie in Brasilien beheimatet war, war abgesprochen, sich in Paderborn zu treffen. Dort waren für ihre Gruppe „Tage der Begegnung“ mit deutschen Jugendlichen vorgesehen.
Und jetzt – in Paderborn angekommen, wusste sie nicht mehr, wo sie die Ihren suchen sollte. Ein Blick in den Computer verriet mir: Ihre Gruppe war in einer kleinen sauerländischen Stadt unterge-bracht, über 130 Kilometer entfernt. Es war zu spät, sie dort noch hinzubringen.
Vivien, so der Name der jungen Frau, hatte Vertrauen gefasst. Ich lud sie, mit einigen anderen Jugendlichen, ein, mit in unser Jugendhaus Hardehausen zu kommen, für das ich verantwortlich bin. Und, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,  so saßen wir abends um unseren großen runden Tisch, Jugendliche aus Bosnien, Serbien, Brasilien und Deutschland. Viele begannen zu erzählen, aus ihrer Heimat, von ihren Familien, von ihrer Reise nach Deutschland. Vivien blieb sehr still, hörte aber aufmerksam zu. Am nächsten Tag begleiteten mich all diese Jugendlichen zu einem „Fest der Begegnung“ nach Paderborn – junge Leute aus über 60 Nationen hatten sich mit ihren Gastgebern angesagt. Mit der jungen Brasilianerin recherchierte ich, dass ihre Gruppe erst zum zweiten Festtag in Paderborn aufkreuzen würde. Ich bot ihr an, einen Fahrdienst für sie zu ihrer Gruppe zu organisieren. Etwas verlegen schaute sie mich an und fragte dann, ob sie nicht dann noch eine zweite Nacht mit den anderen Jugendlichen bei uns bleiben dürfe. „Na klar, kein Problem!“ sagte ich ihr.
So ging’s am zweiten Abend zu später Stunde erneut ins Jugend-haus. Und wieder saßen wir da in großer Runde. Und wieder wurde erzählt. Dieses Mal erzählte auch Vivien. Sie sagte: „In diesen letzten drei Wochen habe ich Gott so nahe gespürt, wie noch nie! Für mich war es nicht leicht, von zu Hause aus aufzubrechen, denn ich hab das noch nie gemacht. Aber ich hab’s gewagt. Und es war so schwer für mich, in Eurem Land zu sein und mich nicht verständigen zu können. Und als ich dann in Paderborn angekommen bin, wusste ich nicht mehr weiter. Da hab ich Gott gebeten: ‚Du musst mir jetzt helfen!’ Und dann bist Du – dabei fiel ihr Blick auf mich – gekommen und ich hab sofort Vertrauen gefasst. Und so habe ich euch hier alle kennen lernen können! Das wäre nie geschehen, wenn ich nicht den Schritt gewagt hätte, einfach loszugehen! Und bei euch war ich irgendwie sofort zu Hause. Bei Euch wohnt Gott!“
Gebannt hörten ihr alle zu. Und dann erzählte sie von ihrer Familie, von dem Leiden ihres brasilianischen Volkes, sie erzählte, wie sie versuchte, mit ihren Freunden für die Armen ihres Landes zu erleben. Sie erzählte und erzählte und erzählte. Und dann am Ende, sagte sie: „Unglaublich, so glücklich wie heute Abend hier unter euch, war ich schon lange nicht mehr, vielleicht noch nie! Ich bin euch so dankbar!“
Am nächsten Tag traf sie ihre Gruppe. Wir verabschiedeten uns voneinander. Ich sah Tränen in ihren Augen. Sie hatte gewagt und gefunden. 

 

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Morgenandacht im Deutschlandfunk

20. Juni 2007


„mit dem Herzen eines Bruders“ – Familie Kasumov

„Nein, nein, du darfst jetzt nicht weggehen! Du musst mit uns kommen!“ sagte mir der kleine Albert und klammerte sich in der Abfertigungshalle des Düsseldorfer Flughafens an mein Hosenbein. Und zugleich hörte ich über die Lautsprecheranlage des Flughafens: „Familie Kasumov wird gebeten, sich unverzüglich am Flugsteig einzufinden!“
Albert gehört zu einer Flüchtlingsfamilie. Vor über 4 Jahren waren sie vor den Nato-Angriffen aus Serbien geflüchtet, Vater, Mutter und 5 Kinder. Der kleinste Bruder von Albert war in Deutschland geboren. Sie sind Roma und haben es deswegen auch in Serbien nicht leicht gehabt. Immer neu auf der Suche nach einem Ort, wo sie bleiben konnten.
Kennen gelernt hatte ich sie durch den Anruf einer Ordens-Schwester. Der Vater hatte an der Klostertür der Klarissen angeklopft und immer wieder um Hilfe gebeten. Weil sich die Schwestern überfordert sahen, riefen sie an. In gebrochenem Deutsch hatte mir Herr Kasumov seine Geschichte und seine Not erzählt. Er lebte in einem Haus für Asylsuchende in Paderborn. Für seine 7-köpfige Familie hatte er drei kleine Zimmer. Und dann stand die Ausweisung an. Seine Frau war durch die Umstände psychisch schwer krank geworden. Als ich sie das erste Mal sah, lag sie wie apathisch auf der Couch ihres Zimmers. Immer wieder hatte ich diese Familie besucht. Dann und wann waren einige Jugendliche mitgekommen. Sie waren erschrocken, wie ärmlich Menschen in unserem Land leben müssen. Trotz all der ersichtlichen Not gab es dennoch kein Bleiberecht mehr für die Familie. Innerhalb weniger Monate musste die Familie unser Land verlassen.
Junge Leute hörten vom Schicksal dieser Menschen. In Serbien würden sie vor dem Nichts stehen. Sie besaßen dort nichts mehr.  Wie sollten sie dort überleben, geschweige denn leben? Wie sollte da Hoffnung keimen? Die Idee kam auf, Geld für ein kleines Häuschen für die Familie in Serbien zu sammeln. Jugendliche aus Bosnien, Tschechien und Deutschland, die sich zu einem Sommercamp im Jugendhaus Hardehausen trafen, entschieden sich für eine Performance-Tournée. Sie entwarfen eine Performance zum Thema „Frieden“ und führten diese in verschiedensten Städten des Landes auf. So sammelten sie einige tausend Euro für die Familie. Mit Hilfe von Spenden gelang es, den Kaufpreis für ein kleines Haus zusammen zu bekommen. Die Roma-Familie war gerührt über so viel Engagement.
Später dann, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, schickten sie immer wieder Fotos von ihrem kleinen Haus. Als dieses Haus durch eine Hochwasserkatastrophe zerstört wurde, blieben die Jugendlichen treu, sie sammelten weiter, eine weitere Bleibe wurde gefunden… aber, es blieb schwierig.
Und dann eines Morgens der Anruf des ältesten Sohnes: „Mein Vater ist hier in Zrenjanin ins Krankenhaus gekommen, er hatte eine Herzattacke. Er war uns doch immer Stütze in allem. Jetzt ist er selber so krank! Wir brauchen dringend Geld für ihn, sonst wird eine überlebensnotwendige Untersuchung nicht gemacht!“
Ich spürte die Not und wusste bald nicht mehr, wie wir noch helfen sollten. In einem Stoßgebet wandte ich mich an Gott: „Hilf du mir jetzt für diese Familie!“ Wenig später traf ich einen Mann, der mich fragte, warum ich so traurig aussähe? Ich erzählte ihm von der Not der Familie. Seine spontane Reaktion: „Die 1000 €, die du brauchst, übernehme ich!“ Gerührt von solchem „Zufall“ – nein, für mich sind es „Fügungen“, gerührt von solcher Fügung kam mir erneut der kleine Albert in den Sinn. „Nein, du darfst nicht gehen! Du musst mit uns kommen!“ hatte er beim Abschied gesagt und sich an mein Hosenbein geklammert!
Ich spürte, ich war nicht gegangen! Wie sollte ich, wenn ein Bruder immer neu an die Tür klopft. Ich war mit dieser Familie geblieben, denn sie waren und sind mir aufgegeben.

 

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Morgenandacht im Deutschlandfunk 

21. Juni 2007


„mit dem Herzen eines Bruders“ – Emmanuel


„Können wir uns noch sehen? Denn übermorgen fliege ich nach Ruanda zurück!“ lese ich in einer Mail. Es ist einen Tag nach den großen Weltjugendtagen in Köln. Mit über 1 Million junger Menschen waren wir auf dem Marienfeld gewesen. Und nun: endlich wieder zu Hause! Alles schrie nach Erholung! Und dann diese Mail: „Können wir uns noch sehen?“
Sie kam von Emmanuel, einem jungen Priester aus Ruanda. Kennen gelernt hatte ich ihn bei einer internationalen Konferenz. Ich hatte mich neben ihn gesetzt und er hatte zu erzählen begonnen. Zum ersten Mal war er in Europa. Alles war neu für ihn. Und er kam aus einem Land mit einer traurigen Vergangenheit. Anfang der 90ger Jahre hatten sich innerhalb von 3 Monaten über 1 Millionen Ruander aus verschiedenen Volksgruppen gegenseitig umgebracht. Es war der „schnellste Völkermord“, der jemals auf Erden statt gefunden hatte. Ein trauriger „Erfolg“. Und diese Wunden – so hatte mir Emmanuel erzählt – schmerzten noch sehr unter einem Mantel des Schweigens. Es gab kaum eine Familie, die nicht von Todesfällen betroffen war – einige Familien waren fast ganz ausgelöscht. Dieses Unfassbare war für viele noch Unansprechbar. Irgendwie versuchte jeder wieder in eine Normalität hinein zu finden – aber was war normal angesichts eines solchen Grauens? All das, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,  ging mir durch den Kopf. Ich spürte: Wir müssen uns sehen, bevor er wieder in seine Heimat zurückfliegt.
Am nächsten Tag trafen wir uns am Kölner Hauptbahnhof. Eine Pizza war angesagt. Er begann zu erzählen. Schnell füllten sich seine Augen mit Tränen. Er konnte es nicht fassen. Mit 50 jungen Leuten war er aus Ruanda zu den Weltjugendtagen nach Deutschland gekommen. Er hatte ihnen allen getraut und sich für sie eingesetzt. Und dann war eine Handvoll von ihnen einfach abgetaucht. Sie würden nicht mehr mit ihm zurückgehen. So mußte Emmanuel bei den Gastfamilien vorbeischauen und das Gepäck seiner jungen Landsleute abholen. Er hatte sich so sehr geschämt. Und er wusste: Wieder zu Hause in Ruanda würden ihm die Behörden viele Schwierigkeiten bereiten… All das lastete schwer auf ihm. Aber was am meisten schmerzte, war das Vertrauen, das er geschenkt hatte und das so enttäuscht worden war. So saß er vor seiner Pizza, die schon lange kalt geworden war. Und sein Herz suchte einen Bruder, dem er das alles erzählen konnte.
Lange hatte ich ihm zugehört. Dann schaute er mich mit verweinten Augen an. Ich konnte sein Leid nicht wegnehmen, konnte es nur mittragen. Ich begann zu erzählen von Friedensschritten, die ich mit jungen Leuten seit Jahren nach Sarajevo gemacht hatte. Ich erzählte ihm, wie wir begonnen hatten, mit den Jugendlichen aus verschiedenen Ländern und Volksgruppen uns Tag für Tag einen Impuls aus dem Evangelium vorzunehmen. So waren die Worte Jesu unser Leben geworden, ganz konkret. Aufmerksam hörte Emmanuel zu. Ich zog eine kleine Plastikkarte aus der Tasche, auf der ein Bibelwort abgedruckt war und ich erklärte ihm, dass viele junge Leute in knapp 50 verschiedenen Ländern diese kleine Karte Monat für Monat erhielten. Und sie versuchten das jeweilige Motto zu ihrem Leben werden zu lassen. „Und dann sprechen sie darüber?“ fragte er – fast ungläubig? Ich bejahte! „Oh!“ entfuhr es ihm. Kannst Du von diesen Karten 6 000 in meiner Landessprache, in Kinyaruanda machen? Ich bejahte! „Und sie uns dann auch bringen?“ Ich schaute ihn ungläubig an! „ Ja, du musst kommen und uns von dem Leben erzählen, das diese kleinen Karten hervorbringt! Kommst du?“
Vier Monate später war ich mit einer kleinen Gruppe Jugendlicher in Ruanda – 6000 Karten im Gepäck. Wir waren eingeladen, uns dort mit mehreren tausend jungen Ruandern zu treffen. Als wir uns nach sehr prägenden Begegnungen in Ruanda am Flughafen von Kigali wieder verabschiedeten, hatten wir alle Tränen in den Augen. Emmanuel nahm uns alle noch einmal in den Arm und sagte: „Es ist echt ein Wunder geschehen! Ihr seid gekommen als Schwestern und Brüder! Und jetzt stehe ich hier, wir kennen  uns erst wenige Tage, aber ich spüre: Ich verabschiede euch als Brüder und Schwestern! Im Flugzeug sitzend ließen mich seine Augen nicht los. Ich sah seine Tränen und wieder neu verstand ich: „Wenn es schwer wird, zählt nur eins: Dem anderen Bruder und Schwester sein!“

 

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Morgenandacht im Deutschlandfunk

23. Juni 2007

 

„mit dem Herzen eines Bruders“ – Martina

 

 

„Ich weiß nicht, was ich machen soll!“ Als ich diesen Satz in der Frühe eines Tages höre, schaue ich in die verweinten Augen einer jungen Bosnierin. Zitternd, mit einem schwarzen Pullover, steht die sonst so farbenfroh gekleidete junge Frau vor mir. Ich erahne sofort, irgendetwas ist passiert. Unter Schluchzen bringt sie es hervor: „Meine Oma ist gestorben! Und Du weißt, wie sehr ich sie geliebt habe und was sie mir bedeutet hat! Und jetzt bin ich so weit von zu Hause entfernt und sie wird morgen schon beerdigt!“
Ihr Schmerz trifft mein Herz, denn ich weiß, wie sehr sich die Verstorbene während des Bosnienkrieges um ihre Enkel gekümmert hat. In schwerer Zeit war sie wie ein Ruhepunkt und Haltepol für die Familie. Jetzt ist sie tot. Und das bedeutet für die junge Frau in unsicherer Zeit noch m ehr an Instabilität.
Ich nehme sie in den Arm und verspreche ihr, alles zu tun, was möglich ist. Wenige Minuten später sitze ich am Computer, um  für den gleichen Tag noch einen Flug nach Sarajevo zu finden. Währenddessen kümmern sich Mitarbeiter des Jugendhauses, in dem ich arbeite, um die junge Frau. Ihr Schmerz geht wie ein Lauffeuer durch das Haus. Verschiedene Mitarbeiter klopfen an meiner Tür und immer wieder höre ich: „Wenn Sie noch Geld brauchen, um den Flug für Martina zu zahlen, wir helfen mit. Wir haben schon begonnen zu sammeln.“  30 Minuten später ist ein Flug – noch für den gleichen Tag gebucht. Ich verschiebe einige noch anstehende Termine, um frei zu sein, den Flughafentransfer zu übernehmen.
Zwei Stunden später sitze ich mit der jungen Bosnierin im Auto auf dem Weg nach Düsseldorf. Es entwickelt sich ein lebendiges Gespräch, in dem sie mir vieles von ihrer vom Krieg geprägten Geschichte anvertraut. Ich erlebe in ihrem Erzählen mit, wie sehr sie in den vergangenen Jahren gelitten hat. Sie mußte ihr Land aufgrund der Kriegswirren verlassen und irrte mit einigen aus ihrer Familie durch verschiedene Länder Europas. Die Ehe ihrer Eltern zerbrach. Das nahm ihr einen wichtigen Lebensgrund… Sie erzählte und erzählte und erzählte. Plötzlich hielt sie inne und sagte. „Komisch, so viel hab ich fast noch nie jemandem erzählt!“  Dann trat eine kurze Pause ein und erneut sagte sie: „Der Krieg hat bei uns so viel kaputt gemacht! Jeder hat gelernt, für sich zu kämpfen. Wenn ich auf mein Leben schaue, dann hat mir eigentlich ganz selten jemand wirklich geholfen! Und jetzt - in dieser so schweren Situation für mich – seid ihr den ganzen Morgen für mich da gewesen und du fährst mich sogar noch zum Flughafen!“ Dann weinte sie und sagte: Das ist nicht aus Trauer, weil meine Oma tot ist. Nein das ist, weil ich in diesem Land Menschen kennen lerne, die für andere leben!“
Wenige Minuten später waren wir am Flughafen, checkten ein und ich wartete noch, bis sie hinter dem gate am Flugsteig verschwand. Auf der Heimfahrt, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,  erhielt ich eine sms: „Bin angekommen und bin so glücklich, dass ich bei meiner Familie sein kann! Danke für alles und danke, dass ihr für uns betet! Meine Mutter war total erstaunt, als ich auf einmal in der Tür stand!“
Martina blieb eine Woche bei ihrer Familie und kehrte dann zurück. Erneut holte ich sie mit einer ihrer Freundinnen ab. Als wir sie am Flughafen begrüßten, sprudelte sie vor Leben. „Ich bin so froh, in Sarajevo gewesen zu sein. Ich hab meiner Familie echt nahe sein können und hab mich von meiner Oma verabschieden können. Aber jetzt bin ich genauso froh, wieder bei euch zu sein! Denn in meiner Heimat ist es nicht leicht. Alle sehen nur noch sich selbst und ihr Leben. Sie können oft nicht anders, weil das Leben dort so schwer ist. Aber hier lerne ich, dass das Leben auch miteinander und füreinander gehen kann. Und dann kommt eine ganz andere Freude und Qualität heraus. Und ich bin wieder gekommen, um das noch besser zu lernen, damit ich es dann in meiner Stadt leben kann!“ Obwohl die Rückfahrt aufgrund vieler Staus lange dauerte, erschien sie nicht langweilig. Denn ich durfte live miterleben, wie sehr es sich lohnt, das eigene Leben und die eigene Kraft und Zeit für andere zu verschenken. Diese paar Stunden verschenkten Lebens hatten dieser jungen Frau einen Mut zuwachsen lassen, der sie stark gemacht hatte. Sie hatte das Herz eines Bruders gesucht und wurde jetzt mehr und mehr zur Schwester für viele.

 

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Morgenandacht im Deutschlandfunk

22. Juni 2007

 

„mit dem Herzen eines Bruders“ – Tobias


„Ach, da fällt mir gerade ein, ich hab’ mein Thema noch gar nicht gesagt! Gibt es eigentlich Gott wirklich? Und was ist das für ein Gott? Ich hab’ vor ein paar Jahren meinen krebskranken Vater verloren und mein kleiner Bruder ist kurz nach der Geburt gestorben! Ich hab ihn erst gar nicht richtig kennen lernen können, da war er schon tot! Ja, das interessiert mich total als Thema, aber da könnt ihr mir ja auch keine Antwort drauf geben!“
Ich stehe am Ende einer Schulstunde in einer Realschulklasse und habe die Schülerinnen und Schüler auf eine Woche Schulendtage vorbereitet. Es ging darum, die Themen zu finden, die sie in der Woche gern bearbeiten wollten. Und da brach es am Ende aus Tobias heraus. Das, was ihn nach all den Schicksalsschlägen, die er in seinem Leben schon hatte durchmachen müssen, am meisten interessierte war die Frage nach Gott. Glauben war für ihn tabu geworden. So viel Leid auf einmal, das sprach eindeutig gegen einen Gott. Und wenn es einen Gott gäbe, der das alles zugelassen hatte, dann wollte er mit diesem Gott auf keinen Fall etwas zu tun haben!
Wenige Tage später, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,  begann der Kurs. Kennenlernensspiele, Abklären der Erwartungen an die kommenden gemeinsamen Tage, der Kurs begann wie jeder andere. Tobias machte mit, wie alle anderen.  Aber immer wieder brach es – oft ein wenig unkontrolliert aus ihm  heraus. Seine ganze Not, die sich oft in Aggressionen äußerte, war deutlich zu spüren. Es schien, als käme niemand an diese seine Not heran. Irgendwie gab es keinen Trost in dieser schrecklichen Situation.
„Und weißt du“, raunte er mir zu, „Kirche ist doch auch blöd, immer alles einerlei, ist doch auch kein Ort für mich!“ Ich ließ nicht locker, versuchte dran zu bleiben – so gut ich konnte. Ich fragte ihn, wie denn seine Kirche aussehen solle? Er erzählte mir: „Wenn ich meinen Gottesdienst gestalten würde, dann würd’ ich alles anders machen, irgendwie mit Tee, die Leute müssten was zu trinken kriegen und die müssten reden können über ihre Probleme und die müssten irgendwie Antworten kriegen auf ihre Fragen.“ Und dann fügte er hinzu: „Kirche muss sich irgendwie anders anfühlen!“
Damit war eine Idee in der Gruppe geboren. Sie wollten ihren Gottesdienst so gestalten, wie sie es sich vorstellten, mit ihren Liedern und selbst geschriebenen Gebeten, mit ihren Texten und mit einer Tasse Tee, mit Gebeten für die Menschen, die ihnen nahe waren…
Es wurde ein Gottesdienst, der mich anrührte. Es war kein Spiel. Das Leben dieser jungen Leute wurde auf einmal Sprache, es gewann Form und es wurde Gebet. Ganz ergriffen gingen alle mit.
Die Geschichte von Emmaus hatten sie sich als Text aus der Bibel ausgesucht. Nach dem Tod Jesu sind zwei Jünger auf einem gemeinsamen Weg und erzählen von ihrer Not mit diesem Tod. Jesus kommt auf einmal dazu und geht mit. Tobias hörte zu und erneut begann er zu fragen: „Aber wer ist denn dieser Gott, der auf einmal mitgeht?“ Und fast gab er sich selbst eine Antwort, als er hinzufügte: „Der ist ja echt dran geblieben. Die Jünger müssen kapiert haben, dass Jesus sie nicht alleine gelassen hat. Der hat die echt geliebt!“ Dann ein kurzes Schweigen. Erneut ergriff er das Wort. „Ja, die waren echt geliebt! Und ich? Ich geh seit Jahren immer wieder zum Psychologen. Und dann muss ich da alles erzählen und das kostet dann um die 50 Euro! Aber da hat mich doch keiner lieb!“
Mir fuhr dieses Wort des 15jährigen fast wie ein Schwert durch die Seele: „Da hat mich doch keiner lieb!“ Da stand er mit all seiner Sehnsucht und all seinen Wunden und sein ganzes Wesen schrie nach einem Ort, wo er geliebt war. Aber er fand und fand ihn nicht, so wie er ihn brauchte. Der Gottesdienst ging weiter.
Ich lud ein,  für einzelne Menschen zu beten, so wie jeder wollte. Viele Namen wurden genannt – ich wusste nicht, was sich hinter diesen Namen an Schicksalen verbarg. Ich betete:  „Für Tobias und seinen Weg!“ Ich sah eine Träne in seinen Augen.
Nach dem Gottesdienst stellte ich mich zu ihm und sagte: „Danke, dass du dein Leid mit uns teilst und es nicht für dich behältst!“ – „Na klar!“ reagierte er ein wenig unbeholfen. Am nächsten Tag fuhr die Gruppe wieder nach Hause. Er saß schon im Bus. Unsere Blicke trafen sich noch einmal! Ob er in diesen Tagen ein wenig von dem gefunden hatte, wonach er sich so sehr sehnte?

 

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Gastfreundschaft


Tritt durch den Spalt,

atme de Ordnung,

lerne am Herd

die Würdes des Gastes

und empfang

in der Fülle der Gaben

deren königliche:

anvertrautes Leid.

                    Klaus Hemmerle