erste Schritte auf den Balkan - ein Weg nach Vidovice

 

 

 

 

 

 

Sarajevo. Bosnien. 2009.

14 Tage/6 Wohnungen/6 Profile

 

Jonas Diekhans, Camp-Teilnehmer im Jahr 2009, beschreibt mit sechs Menschenbildern "Splitter des heutigen Sarajevos". Ausschnitthaft beschreiben sie einen Teil der sozialer Realität, dieser vom Krieg gezeichneten Stadt.

Über zwei Wochen arbeiteten im Juli 2009 Kamener Firmlinge zusammen mit bosnischen Jugendlichen in verschiedene Projektgruppen, um Wohnungen und Häuser bedürftiger Menschen zu renovieren. Alle Portaits entstammen dieser Kooperation...

 

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Chronik des bosnischen Friedensweges

 

 

Hände für den Frieden   –  dem Frieden Hände geben


der bosnische Friedensweg des Jugendhauses Hardehausen

1995 - 2007



 

In Fellinis Film „La Strada“ rät der Clown dem Mädchen Gelsomina, sie solle bei dem unliebsamen Zampano bleiben. „Wenn Du ihn nicht liebst und nicht bei ihm bleibst, wer soll es dann tun? Das ist ein Gleichnis für unsere Berufung in Gottes revolutionärer Welt. Wir sind berufen, diese Welt zu lieben und bei ihr zu bleiben, die Verantwortung für ihren Wiederaufbau und ihre Erneuerung auf unsere Schultern zu nehmen. Das ist der Auftrag, den Gott uns gegeben hat, und er wird uns die Kraft geben, ihn auszuführen.“

                                                                                                          Harvey Cox

 

 

 

Hände für den Frieden – dem Frieden Hände geben

der bosnische Friedensweg des Jugendhauses Hardehausen

 

1995

wie alles begann

Bei einer Eurovisions-Direktübertragung eines großen Europäischen Jugendtreffens in Loretto am 10. September 1995 sagte Papst Johannes Paul II.: „Nur wenige hundert Kilometer von hier, am anderen Ufer der Adria, sterben immer noch Menschen täglich, nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern auch auf Strassen und Plätzen. Es sterben Frauen und alte Menschen, während sie für ein bisschen Wasser und Brot anstehen. Es sterben Kinder mitten in ihren unschuldigen Spielen von der mörderischen Kugel überrascht. Wie viele Jugendliche in eurem Alter sind Opfer dieser Tragödie. Wie viele zerbrochene Menschenleben. Man spricht ununterbrochen vom Frieden, aber man hört nicht auf mit dem Krieg.(…)

Liebe Jugendliche, weist die stumpfsinnigen und gewalttätigen Ideologien von euch; haltet euch fern von jeder Art von fanatischem Nationalismus und von Intoleranz. Euch ist die Sendung anvertraut, neue Wege zur Brüderlichkeit unter den Völkern zu öffnen, um eine einzige Menschheitsfamilie zu schaffen, indem ihr das Gesetz der Gegenseitigkeit von Geben und Empfangen, von Sich-Verschenken und Aufnehmen des anderen vertieft. An euch ist es, die fruchtbare Kultur des Evangeliums zu verbreiten. (…) Seid selbst lebendige Antwort Christi, in dem ihr das Evangelium zur Grundregel eures Handelns und eurer Wünsche macht.“

Und dann sagt der Papst in einer Video-Live-Schaltung direkt in einen Bunker von Sarajevo: „Heute Abend erklären wir uns alle zu Mitbürgern Sarajevos. Wir sind mit euch!“ Dieses Video fiel mir in die Hände. Ich habe es gesehen. Es ließ mich nicht mehr los. Vor allem die Gesichter der Jugendlichen aus Sarajevo hatten sich mir eingeprägt. Sie begleiteten mich fortan.

 

Weihnachten 1995. Der zerstörerische Krieg im ehemaligen Jugoslawien ist durch das Dayton-Abkommen zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. Am 16. Dezember haben die Konfliktparteien den Vertrag von Dayton unterzeichnet. Europa atmet auf. Überall die bange Frage: Wie soll es nun weiter gehen?

 

Die Bischöfe von Bosnien und Herzegowina schreiben in einem Hirtenbrief an ihre Diözesen:

„Während wir unseren Aufruf zur Versöhnung und zum Aufbau einer gerechteren Gesellschaft an alle Menschen guten Willens richten, fragen wir uns mit Bangen; wird die Versöhnung verwirklicht werden und ist Frieden und Versöhnung möglich? Sind wir alle nach allen Enttäuschungen und Versuchungen fähig, aufrichtig um Vergebung zu bitten und zu vergeben? Sicherlich stehen uns auf diesem Wege viele schwere Hindernisse entgegen und das größte ist sicherlich das menschliche Herz. Es ist eine Grunderneuerung des Herzens nötig, was im Glaubenssinn Bekehrung heißt. (…) Nur mit Gott im Herzen werden wir die Kraft finden, die Aufgabe, die uns als lebendige Gemeinschaft der Jünger Christi heute in diesem Land zuteil wurde, zu erfüllen. (…) In Gottes Nähe wird die Entfernung zwischen uns entschwinden. Die Wärme seines göttlichen Herzen ist imstande, neue Glut in unseren menschlichen Herzen zu entfachen.“

 

Kardinal Vlk von Prag, der Präsident des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen CCEE, besucht am Weihnachtsfest 1995 die geschundene Stadt Sarajevo. Ich sah „die Friedhöfe mit ihren zahllosen Gräberreihen. Das Olympiastadion ist jetzt Friedhof. Bei unserem Gang durch die Stadt haben wir die zerbombten Häuser gesehen, die leeren Fenster, die Kirchen mit den von Einschüssen durchsiebten Türen, deren Fenster mit Plastik verhangen sind. Ich erinnere mich an eine Herz-Jesu-Statue mit Gewehreinschüssen, an zerstörte Kreuze, eine Marienstatue, die in der ausgebrannten Kirche übrig geblieben war. Gesichter und Gewänder waren rauchgeschwärzt. Wirklich die Dolorosa, die Desolata, Maria mit dem toten Jesus. Der Hass des Krieges macht nicht einmal vor dem Heiligen und vor kostbaren Kunstwerken halt. In den Häusern kein weihnachtliches Zeichen, nur in zwei Hotels gab es eine zaghafte Dekoration. (…) Jesus ist gekommen als der Emmanuel, der nahe Gott. Aber wo ist er hier, fragt ein Schrei in uns. Die durchlöcherten Kirchen und Kreuze beginnen zu reden: Er geht hinein in unser Elend und nimmt all unsere Schmerzen und unsere Leiden auf sich.“

 

Bischof Lehmann von Mainz fragt im Mainzer Dom in seiner Weihnachtspredigt 1995: „Könnte nicht der Wiederaufbau von Bosnien-Herzegowina eine Herausforderung für deutsche Jugendarbeit sein? In seinem Haushalt leben bosnische Schwestern. Er hat die Grausamkeit des Krieges die ganzen Jahre sehr persönlich gefärbt verfolgen können.

 

Ich lese diese Frage in der Zeitung. Sie reißt in mir Erinnerungen an Bilder aus vergangenen Jahren auf. Ich „sehe“ verwundete Soldaten, hilflose Zivilisten, bei hintertückischen Attentaten verletzt. Vor allem aber ist das Bild eines kleinen Jungen wieder lebendig, der mitten in Sarajevo vor einer Hauswand spielt. Plötzlich kommt Granatbeschuss. Der Kleine ist allein. Sein Gesicht angstverzerrt. Er hält sich den Kopf. Schreit. Weint. Niemand ist da, der ihn in den Arm schließen könnte. Diese Bilder werden während der Tagesthemen um 22.30 Uhr irgendwann im Sommer 1995 gesendet. Danach nimmt die Nachrichtenpräsentation in gewohnt nüchterner Darstellung ihren Lauf. Aber die ansichtig gewordene Grausamkeit zerrt aufs vehementeste an meinen Nerven.

Ein zweites Bild kommt mir. Ein Mädchen – nach einem der Brotschlangenattentate mitten im Herzen von Sarajevo, weinend neben der schwer verletzten Mutter. Alles blutverschmiert und umgeben von schreienden Menschen.

Ein drittes Bild. Ich sehe mich selber mit meiner fragenden Ohnmacht angesichts all des Grausamen. Ich saß am Fernsehen. Mittelbare Kommunikation via TV. Mir kamen Tränen und ich wusste nur eins. Du musst antworten. In diesem Schrei, in diesen Tränen ruft ein Anderer. Von diesem Augenblick an wusste ich genau: Es wird irgendeinen Weg geben. Und du musst ihn gehen!

All das ist den Weihnachtstagen 1995 präsent. Es kulminiert. Ich kann nicht mehr schlafen. Immer wieder der Gedanke an ein Friedenscamp in Bosnien. Ein Samenkorn über Monate verborgen scheint auf einmal aufzuspringen. Noch ist nicht klar, wo es hin wachsen wird.

 

1996

Eine Idee gewinnt Gestalt. Wiederaufbau ist angesagt. Aber was nützt es, Häuser wieder herzurichten, wenn den Menschen keine Chance gegeben wird, sich zu erneuern. Es braucht Häuser aus „lebendigen Steinen“. Es braucht Menschen, die bereit sind, nach allem Hass und Morden zu glauben, dass die Liebe stärker ist. Und es braucht in uns Menschen, die ihnen das zutrauen.

 

Die Idee, ein Wiederaufbaucamp in Bosnien anzugehen wird ins pädagogische Team eingebracht. Schlagworte und Fragen wie „zu gefährlich – Minen – politisch unsichere Situation – wer kann die Verantwortung tragen? – was ist, wenn etwas passiert?“ machen die Runde. Aber niemand stellt sich der Idee ablehnend entgegen. Wir vereinbaren, 14 Tage die Idee in uns mit zu tragen und sie dann erneut auf die Tagesordnung des Teams zu bringen. Über das Auslandsreferat der Caritas in Paderborn haben wir von Kontakten in ein kleines nordbosnisches Dorf gehört. Dort soll ein Friedenskindergarten gebaut werden. Es wäre schön, wenn wir helfen könnten.

 

Die vereinbarte Teamsitzung im Januar 1996 steht an. Nach langen und intensiven Beratungen entscheiden wir, erste Schritte zu wagen. Die Idee: Wir wollen helfen, den Friedenskindergarten in Vidovice, dem kleinen nordbosnischen Dorf zu bauen und – wenn möglich - noch bei Privatleuten beim Wiederaufbau mit Hand anlegen. Einziger Filter vor einer ersten Sondierungsreise sind noch ein Gespräch mit Erzbischof Degenhardt und eine mündliche Umfrage untern den ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ob sie ein solches Projekt mit zu tragen bereit wären.

 

Beide Begegnungen sind ermutigende Zeichen. Erzbischof Degenhardt schreibt am 03.02.1996: „Besten Dank für Ihr heutiges Fax! Ich freue mich sehr über ihre Initiative für Bosnien (Gemeinde Orasje) und über Ihre konkreten Projekte. Herzlichen Glückwunsch und alles Gute!“ Genauso prompt kommen Reaktionen von ehrenamtlichen MitarbeiterInnen unseres Hauses. Nach 10 Tagen haben sich bereits mehr als 20 Interessenten gefunden. Der Weg scheint offen.

 

erste Reaktionen im deutschen Umfeld

Eine kleine Presse-Notiz von der Idee des sommerlichen Friedensweges des Jugendhauses nach Bosnien findet großen Anklang. Sie wird von verschiedenen Lokalredaktionen aufgegriffen. Eine Welle von Anrufen ist die Folge. Lokalsender des Radios und Fernsehens nehmen die Meldung auf und verbreiten sie. Vielfältige Spenden sammeln sich im Jugendhaus: Geld- und Sachspenden, Hausmobiliar, Küchengeräte, Baumaterial, Bauhandwerkszeug, 2 LKW, eine kleine Schreinerei, ein Traktor… Ein Strom der gegenseitigen Liebe beginnt zu kreisen. Es melden sich weitere junge Leute, die Interesse haben, am Camp in Bosnien teilzunehmen. Im April 1996 liegen bereits 20 Anmeldungen vor. Es vergehen Stunden des Gespräches am Telefon, um besorgten Eltern Mut zuzusprechen, Ihren – inzwischen erwachsen gewordenen Kindern – die „Erlaubnis“ zu geben, an dem Camp teilnehmen zu dürfen. Zu groß ist die Angst vor den Gefahren im ehemaligen Kriegsgebiet Bosnien. Der Organisationsaufwand ist beträchtlich geworden. Ein dringend für die Gesamt-Orga gebrauchter Mitarbeiter, Dietrich Wenner, wird uns zu gespielt. In der gesamten MitarbeiterInnenschaft des Jugendhauses herrscht eine hohe Einsatzbereitschaft für das beginnende Projekt.

Im Tagebuch des ersten Bosnien-Camps ist zu lesen: „Persönlich war mir in den vergangenen Tagen fast ‚schwindelig’ geworden beim Rückblick auf das, was alles geschehen und aufgebrochen war. Ich dachte an einzelne Unternehmer, die bis zu 15.000 DM an für uns notwendigen Materialien gespendet hatten, ich dachte an all die vielen Artikel, die in vielen Zeitungen gestanden hatten, an den WDR und an Radio Hochstift, die sich gemeldet hatten, an die alte Frau, die uns die Schreinerei ihres Mannes und damit ihr Lebenswerk geschenkt hatte, an verschiedene Kinder, die auf vieles verzichtet hatten, um uns für Kinder in Bosnien etwas mitgeben zu können, an mehrere Ordensfamilien, die uns fest ihr Gebet versprochen hatten.“

 

 

erster Direkt-Kontakt mit Bosnien

Vom ersten Augenblick des Weges ist deutlich: Es muss ein Weg werden, über den Brücken zwischen jungen Menschen verschiedener Länder wachsen können. Nur so wird die Botschaft von Papst Johannes Paul II. „Nie wieder Krieg, nie wieder Hass und Intoleranz!“, die er am 12.04.97 der Bevölkerung von Sarajevo auf dem Flughafen der Stadt zuruft, auch in Bosnien Wurzel schlagen können. So fahren wir vom 04.-08.05.1996 zu dritt zu ersten Kontakten nach Orasje / Vidovice – eine junge arbeitslose Werkzeugmechanikerin (Martina Meiwes), ein junger Soldat (Jan Dirk Hedt) und ich. Kontakt haben wir über die Diözesancaritas Paderborn, Referat Auslandshilfe, über Herrn Gerhard Wieczorek aufnehmen können. Über ihn entsteht ein Kontakt zu Pfarrer Jakov Filipovic von Vidovice, zu Schwester Katharina Lukacevic – einer Ordensschwester, die für die Caritas arbeitet und zum Leiter des Wiederaufbauamtes vor Ort, dem späteren Kantons-Präsidenten Pavo Kobas. Diese drei sind unsere ersten „Brückenpfeiler“ auf bosnischer Seite.

 

Bei einem Open-Air-Konzert der „Jugend für eine geeinte Welt“ in Münster (04.05.1996) berichten Martina, Jan-Dirk und ich von dem beginnenden Friedensweg. Im Anschluss an das Konzert beginnt das Wagnis, wir fahren los in eine mehr als offene Zukunft. Der Weg führt über Regensburg – Passau – Linz – Graz – Maribor (Slowenien) – Zagreb (Kroatien) – Salvonski Brod – Zupanja – Sava (Grenzfluss zwischen Kroatien und Bosnien) – Orasje nach Vidovice.

 

Es sind bewegende Erfahrungen, die gemacht werden. In Tagebuchnotizen heißt es: „Nach und nach gelangen wir in das Gebiet der Zerstörungen, zunächst wirkt alles fast unwirklich. Wir fahren im Auto in großer Geschwindigkeit vorbei. Alles Zerstörte zeigt sich wie im Fernsehen in kurzen vorbeirasenden Blitzlichtern. Wir erahnen nur, was hier für Gräueltaten geschehen sind. Und dann stehen wir an der Sava. Nur dieser Fluss trennt uns noch von Vidovice. Mit einer alten, wackeligen Fähre setzen wir über. Fast schon ein Erlebnis für sich. Wir folgen Pavo Kobas und Schwester Katharina, die uns in Zagreb abgeholt haben, in eine für unser Empfinden traumatisierte Landschaft. Ein abgeknickter Hochspannungsmast weist von weitem auf das mutwillig Geschehene hin. Wir erreichen die ersten Häuser von Vidovice. In blühende Bäume eingebettet ragen überall Häuserruinen in den Himmel. Kein Haus ist unversehrt geblieben. Überall Einschüsse, verbrannte Häuser, Splitter und Trümmer. Spuren gewollter Verwüstung. Zwei Mal haben die Menschen hier vor den Tschetniks fliehen müssen. Zwei Mal innerhalb des Krieges haben sie Zerstörung und Morden über sich ergehen lassen. Und überall sehen wir vor allem spielende Kinder und ältere Menschen. An einigen Häusern auch Wiederaufbauarbeiten. Viele Menschen, die während des Krieges nach Kroatien oder ins sichere Ausland geflohen waren, sind noch nicht zurückgekommen. Über allem liegt eine Lethargie. Aus den Gesichtern all der Menschen, die uns da anschauen und denen wir immer wieder zuwinken, spricht ungeheures Leid, z.T. wirken sie verhärtet, fast wie versteinert. Alles wirkt wie eine Geisterstadt. Dieser Eindruck verstärkt sich, als wir abends in der Dunkelheit ein zweites Mal in diesen Ort kommen. Unwillkürlich denke ich an den Film „The Day After“.

 

Wir begegnen in 2 Tagen vielen Einzelschicksalen. Wir hören von Flucht und Rückkehr, von Tod und Traumatisierungen, wir besuchen Friedhöfe und Ruinen und überall werden wir mit offenen Armen aufgenommen. „Schön, dass Ihr kommt und uns nicht alleine lasst!“ ist überall die verborgene Botschaft. Von diesem „inneren Angekommen-Sein“ sprechen  die letzten Zeilen der Tagesbuchnotizen dieser Vorfahrt: „Abschied. Eigenartig, schon nach zwei Tagen ist soviel zwischen uns gewachsen, dass es schwer fällt zu gehen. Wie so oft spüre ich: Investierte Liebe öffnet und verbindet. Das Netz, das mittlerweile in Deutschland durch die vielen gewachsen ist, die sich in dieser Aktion „Hände für den Frieden – dem Frieden Hände geben“ engagiert haben, hat in diesen Tagen Verankerung in Bosnien gefunden. Wir fahren als Beschenkte heim – nicht als Belastete. Es wartet viel Arbeit auf uns – aber sie ist nicht das Erste und Wichtigste. Vielmehr warten Menschen auf uns, die uns zum Geschenk geworden sind.“

 

Ermutigungen vor dem Camp

Erzbischof Degenhardt schreibt uns per Fax mit Blick auf den beginnenden Friedensweg am 01.01.96: „Lasst uns dem Leben trauen, weil wir es nicht allein zu leben haben, sondern Gott es mit uns lebt!( Alfred Delp) In brüderlicher Verbundenheit!“

Im Mai 96 erreicht uns ein Brief aus dem Haus des Kardinals in Sarajevo: „Unser Kardinal Vinko Puljic hat Ihren Brief vom 05.03.96 erhalten. Er bedankt sich gerne für den Brief und für Ihre Bereitschaft in unserem vom Krieg geplagten Land mit den Jugendlichen beim Aufbau zu helfen. Es ist eine edle Sache und wir schätzen es außerordentlich!“

Bischof Lehmann schreibt am 24.06.96: „Ich danke Ihnen sehr herzlich, dass sie den Gedanken meiner Weihnachtspredigt aufgegriffen haben und junge Leute zur Aufbauhilfe in Bosnien gewinnen konnten. Gerade in der vergangenen Woche hatte ich Besuch von Weihbischof Sudar aus Sarajevo. Im Gespräch mit dem Weihbischof habe ich wieder neu erfahren, wie notwendig unsere Hilfe dort beim Wiederaufbau ist. Ich weiß nicht, wie weit Ihr Engagement mittlerweile gediehen ist. Ich bin mir aber sicher, dass auf diese Weise ein wirklicher Baustein zu Frieden und Versöhnung gelegt wird.“

Am 05.07. des Jahres – kurz vor unserer Abfahrt – schreibt er: „Ich möchte Ihnen meine besten Wünsche mit auf den Weg geben! Ich freue mich wirklich sehr über das großartige Zeichen christlicher Solidarität und geschwisterlicher Hilfe, das sie alle mit diesem Einsatz setzen. Sie haben schon bei ihrer Vorfahrt das unvorstellbare Leid erfahren und die Wunden gesehen, die der Krieg auf so unmenschliche Weise gerissen hat. Wir wissen, dass unsere Hilfe diese schrecklichen Wunden nicht einfach ungeschehen macht. Aber mit Ihrer Hilfe und Ihrem Einsatz werden Sie den Menschen dort Hoffnung bringen. Sie können ihnen erfahrbar machen: ‚Ihr seid nicht vergessen und ihr seid nicht allein!’ Ich bin wirklich sehr glücklich darüber, dass eine solche stattliche Zahl an Helfern zusammen gekommen ist und ich danke jedem, der hier mittut!“

 

das erste Sommercamp 1996

29 Jugendliche und junge Erwachsene fahren vom 07.-31. Juli 1996 ins erste Friedenscamp nach Vidovice in Nordbosnien. Von Seiten des Jugendhauses fahren Thomas Bruns (pädagogischer Mitarbeiter), Dietrich Wenner, Gerd Schulte, der als Installateur vom Generalvikar für drei Wochen für das Bosniencamp freigestellt wird, und ich mit. Das Fundament für einen Friedenskindergarten wird gelegt, mehrere Privathäuser und einzelne Zimmer und die örtliche Schule instand gesetzt. Die Gruppe hat sich in zwei Wochenendebegegnungen auf den Einsatz im Camp vorbereitet. Themen waren: historische Hintergründe für den Krieg – ökumenische und interreligiöse Situation in Bosnien – Situation der katholischen Kirche – geographische Gegebenheiten - Vorsichtsmaßnahmen in ehemaligen Kriegsgebieten – Begegnung mit bosnischen Flüchtlingen.

 

Aufgrund großer Unwägbarkeiten und großer anfänglicher Unsicherheiten setzen wir für die Gruppe eine klare Struktur. Jeder ist verortet in einer kleinen Arbeitsgruppe. Gesamtleitungs- und Kommunikations-Gruppe – Organisationsgruppe – Baugruppe - Sprachkursgruppe – Küchengruppe. Jeder Tag hat einen klaren Ablauf. 7.30 Uhr Frühstück, anschließend Tagesimpuls und Orga-Absprachen – Arbeit in den Arbeitsgruppen – Mittagessen – Pause – Arbeitsgruppen – Abendessen – Freizeit, Sport bzw. inhaltliche Angebote, 24 Uhr spätestens Rückkehr zum Schulgebäude, unserem Kommunikations- und Lebensort während des Baucamps. Neben der Arbeit auf den verschiedenen Baustellen organisieren wir Kindernachmittage, Sprachkurse und Musik- und Sport-Nachmittage.

 

Die Gastfreundschaft und Kommunikationsoffenheit der Bewohner des Ortes begeistert die Gruppe. Ein guter Kontakt zum Wiederaufbauamt über den zukünftigen Präsidenten des Kantons Orasje, Pavo Kobas, entsteht. Kontakt und Kommunikation zum Dorfpfarrer bleiben schwierig. Es scheint neben aller Freude viel Misstrauen da zu sein.

Ein Besuch bei Weihbischof Sudar in Sarajevo wird möglich. Auch von ihm wird den jungen Aufbauhelfern viel Wertschätzung und Dank entgegen gebracht. Weit über 1000 Menschen sind in einem großen Gebetsnetz mit uns verbunden – ganze Klostergemeinschaften haben uns ihr „Mit-Gehen“ zugesagt. Sie alle und die Familien der jugendlichen Camp-Teilnehmer halten wir über Fax während des Camps im ständigen Informationsfluss.

 

Die Jugendlichen (18 – 25 Jahre) arbeiten mit größtem Engagement, aber die Organisationsstruktur innerhalb des Dorfes Vidovice und die fehlende Verbindlichkeit der Aussagen der Verantwortlichen des Dorfes machen uns zu schaffen. Es ist nicht immer leicht, alle CampteilnehmerInnen an Arbeitsstellen unterzubringen. Bei einigen der Jugendlichen kehrt immer wieder ein Gefühl des „Nicht-gebraucht-Werdens“ ein. Sehr langsam nähert sich die Gruppe einem Verstehen der Mentalität des Balkans. Es ist und bleibt für viele befremdlich, zu verstehen, warum viele Dorfbewohner einander nur wenig helfen. Alte Konflikte aus der Dorfgeschichte prägen auch nach dem Krieg noch die Beziehungen unter den Dorfbewohnern.

 

der innere Weg zum Frieden

Jeder Tag beginnt mit einem kurzen am Tagesevangelium orientierten Morgenimpuls. Er gipfelt in einem kurzen Motto, das zu leben alle Teilnehmer des Camps und des Dorfes eingeladen sind. (Beispiele: „Tu immer neu den ersten Schritt!“ – „Lieben, das können wir immer!“ – „Du-selig sein – oder im Du selig werden!“) Leitend ist die Aufforderung des Apostels Jakobus: „Hört das Wort nicht nur an, sondern handelt danach, sonst betrügt ihr euch selbst.“ und das Petrinische Bekenntnis: „Herr, Du hast Worte, des ewigen Lebens!“ Jesu Worte, die zum Leben führen wollen, sind Leitfaden für jeden Tag. Eine von einem Teilnehmer zum Motto entworfene Karikatur an der Eingangstür erinnert den ganzen Tag an diesen Lebensimpuls. Das Motto ist immer wieder Thema im Tagesverlauf – auf den Bauten, beim Kartoffelschälen, auf den Orga-Fahrten…

In einem Klassenraum wird abendlich Eucharistie angeboten. Oft kommt über die Hälfte der Gruppe. Jeder Gottesdienst beginnt mit einer Erzählrunde. Die kleinen Erfahrungen zum Tagesmotto werden ausgetauscht. „Am Abend des Tages versammelten sich die Jünger wieder bei Jesus und berichteten ihm alles, was sie getan und was sie gelehrt hatten!“ Unabhängig von diesen Gruppentreffen ergeben sich viele Gespräche mit einzelnen. Es kommen Fragen, Sorgen, Aufbrüche, Berufungswege, Entdeckungen des Evangeliums ins Licht.

Rückblickend ist in einem ersten Rundbrief nach dem Camp zu lesen: „Auf der Rückfahrt von Bosnien erschien mir Bosnien und vor allem Sarajevo wie ein Brennglas unseres Jahrhunderts. Auf diesem Fleckchen Erde bündeln sich Linien. Für den Glaubenden ist Gott dort fast zu greifen, freilich in unansehnlichem Gewand und mit entstelltem Gesicht. Der Schrei Jesu am Kreuz, sein „Warum“ erschien mir als SEIN Ort für unser Jahrhundert. Dieses „Warum“ hallt wieder in Hiroshima, in Auschwitz, in Goma und jetzt auch in Sarajevo. Und welche Hoffnung bricht auf, wenn wir diesen Schrei zu UNSEREM Ort werden lassen. Nein, sie gehen uns nicht wieder aus den Ohren, die Worte von Sniezana, einer jungen Frau aus Vidovice: „Kommt bitte, bitte bald wieder! Wir brauchen Euch so sehr!“

 

erste Entwicklungen

Nach der Rückkunft aus dem Camp beginnt eine wahre Flut an Aktionen, um über Bosnien zu informieren und um Geld zu sammeln für Bauprojekte vor Ort. Es werden Konzerte veranstaltet, Flohmärkte organisiert, kleine Gruppen ziehen musizierend durch Gaststätten, Geburtstagsgeschenke kommen dem Projekt zu Gute, es gibt Baustein-Aktionen und gesponsorte Märsche (Realschule Belecke), Schulendtagskurse beschäftigen sich mit dem Thema der „Bosnien-Frage“, Gottesdienste werden veranstaltet, in Jugendverbänden wird über den Weg informiert, Kindergärten veranstalten Aktionen.

 

Am 6.10.1996 treffen sich alle Bosnienfahrer erstmals, um zu erzählen. Schon zu diesem Zeitpunkt weitet sich der Horizont über den Norden Bosniens. Weihbischof Sudar aus Sarajevo schreibt zu diesem Treffen: „Mit Freude und Dankbarkeit habe ich Ihre Tagebuchnotizen „Hände für den Frieden – dem Frieden Hände geben“ erhalten. An unser Treffen und unser Gespräch hier in Sarajevo denke ich gerne zurück. Ich habe sehr gerne die jungen Menschen, die sich von den wahren Idealen begeistern lassen, weil ich tief überzeugt bin, die Zukunft der Welt und der Kirche Christi wachsen in ihren – Euren Herzen! (…) Am 06.10. bin ich in einer Pfarrei in Mittelbosnien, aber im Geiste bin ich auch mit Euch im Jugendhaus!“

Und in einem Rundbrief vom 31.10.96 ist zu lesen: Seitdem Weihbischof Sudar von Stup in der Nähe von Sarajevo gesprochen hat, „geht mir Sarajevo nicht mehr aus dem Kopf! Andererseits kamen wir am vergangenen Freitag im Gespräch mit den Jugendlichen für eine geeinte Welt auf junge Leute aus Sarajevo zu sprechen, die sie in Augsburg kennen gelernt hatten und die direkt aus Sarajevo stammen. Es sind zwei Mädchen, ein Zwillingspaar, Ida und Ines. Ich bin gerade dabei, die Adressen dieser Jugendlichen ausfindig zu machen, um zu schauen, ob über sie Kontaktschienen zur dortigen Kirche möglich sind. Eine weitere Kontaktschiene könnte das Priesterseminar in Sarajevo sein, wohin mittlerweile seit ungefähr 1 Woche die Seminaristen zurückgekehrt sind. Ich selber habe die Idee, das Vorhaben, evtl. ein Jugendhaus in Sarajevo im einfachen Stil mit den dortigen Jugendlichen und den dortigen Verantwortlichen entstehen zu lassen,  an Bischof Sudar zu schreiben.“

 

entstehende Vernetzungen

° Gebets-Netz. Ein kirchlich und politisch weit verzweigtes Netz entsteht in diesen Jahren. Von den weit über 1000 Menschen, die versprechen, für das Friedensprojekt zu beten und zu leben, war schon die Rede. Neben vielen Einzelpersonen sind es die Ordensfamilien der Vinzetinerinnen von Paderborn, die Klarissen-Schwestern von Pb, die Benediktinerinnen von Herstelle, die Ursulinen von Attendorn, die Franziskanerinnen von Siessen und von Au am Inn…

 

° Die „Time-out-Aktion“, eine Minute täglich um 12 Uhr MEZ überall auf der Welt für den Frieden zu beten oder zu schweigen – von den Jugendlichen für eine Geeinte Welt erdacht –wird aufgegriffen und als Idee vorangebracht. Vom Jugendhaus Hardehausen werden kleine „Time-out-Scheckkarten“ mit dem Friedensgebet der Vereinten Nationen gestaltet und im Laufe der Jahre werden über 10 000 verteilt und verkauft. Ganze Schulklassen und Jugendgruppen in verschiedenen Ländern der Welt (Tschechien / Luxemburg / Schweiz / Brasilien) beteiligen sich. Im Jugendhaus selbst wird das „Time-out“ regelmäßig gebetet, Konferenzen werden unterbrochen, an Schulendtagsklassen wird die Idee weiter gegeben…

 

° Wir stehen im regelmäßigen Kontakt mit verschiedenen Bischöfen. Bischof Lehmann meldet sich im ersten Jahr mit 4 Briefen, Kardinal Puljic und Weihbischof Sudar melden sich – wie schon dargestellt – wiederholt. Sudar schreibt. Vor allem durch das Tagebuch habe ich gesehen, „wie tief ihr die Lage in unserem Land und die Sorgen unserer Leute durchschaut“ habt. „Wenn die Menschen – Politiker in Deutschland und Europa, die über unsere Zukunft entscheiden, so viel über uns wüssten und für uns Interesse hätten, ginge es uns schon längst viel, viel besser!“ Weiter kommen Briefe von Erzbischof Degenhardt und Generalvikar Kresing, Bischof Spital aus Trier, Bischof Kamphaus aus Limburg, Weihbischof Drewes, Schwester Mediatrix aus Paderborn, von den Generaloberinnen der Siessener und Au am Inner Franziskanerinnen, von Bischof Patrick Hoogmartens aus Hasselt/Belgien und Weihbischof Pierre Bürcher aus Genève, von Chiara Lubich, Klaus Kinkel, Claudia Nolte, Hans Koschnik und von Erika Mann aus dem Europa-Parlament. Chiara Lubich schreibt am 20. Juli 1996: „Ich bin sehr zufrieden über diese Initiative, die ihr mit ‚Jesus unter euch’ voran bringt. Ich bete darum, dass es eine starke Erfahrung konkreter Liebe wird für alle Teilnehmenden und ein echtes Zeugnis für alle, denen Ihr begegnet, in dem Ihr so beitragt zu einer neuen Welt, die zutiefst vom Evangelium geprägt ist.“

Im September 96 schreibt Prälat Grothe: „Mit Interesse habe ich Ihren Bericht im pdp gelesen, mit dem Sie einen Einblick vermittelt haben über die Aufbauhilfe von 30 Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den kriegszerstörten Häusern. Ich möchte Ihnen meinen Respekt und auch meine Freude zu diesem Unternehmen sagen. Es erfordert sicher nicht nur Mut, sondern zeigt auch die Fähigkeit, sich mit einer Situation zu identifizieren, die sicher zu den schlimmsten gehört, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa entstanden ist. Dass solch ein Unternehmen möglich ist, ist auch ein Beweis für die engagierte Arbeit im Jugendhaus Hardehausen.

Helmut Kohl schrieb ein zweites Mal über sein Büro: „Der Herr Bundeskanzler dankt allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Bosnienfahrt für ihr Engagement sehr herzlich. Zugleich bittet er sie, die Bindungen zu den Menschen in Bosnien weiterhin zu pflegen und in der Nächstenliebe nicht nach zu lassen.“

 

° Neben all diesen Reaktionen von Persönlichkeiten des öffentlichen und kirchlichen Lebens bewegen uns / mich die vermeintlich „kleineren Zeichen“. Eine Teilnehmerin des ersten Camps schreibt: „Dieses Jahr ist für mich ein ganz besonderes Jahr! Denn ich habe mich neu für das Leben entschieden!“ – Später hören wir von ihren Suizid-Gedanken. Eine Mutter rief an: „Mein Sohn im Kindergartenalter hat dieses Jahr auf Ostern auf alles Süße verzichtet! Das Geld soll ich Ihnen nun schicken, Sie sollen sich davon einen LKW kaufen!“ Ein Kommunionkind schreibt: „Ich möchte gerne das Kindergartenprojekt mit 20 DM unterstützen. Tschüss!“

Jugendliche aus Brasilien von der Fazenda da Esperanza schreiben: „Du hast uns geschrieben von dem Licht, das zwischen euch aufgeleuchtet ist. ‚Wenn du unter uns bist, gibt es keine Nacht!’ Wir haben diesen Satz in Grossbuchstaben ausgeschnitten und in unserem Esszimmer aufgehängt. So können wir uns immer daran erinnern, die Einheit mit dem leidenden bosnischen Volk zu leben. Ich habe den Wunsch, mein Abendessen zu opfern. Ich weiß, dass es für mich ein großer Verzicht ist. Aber in dem Wissen, dass viele Menschen in Bosnien diesen Kampf täglich durchzustehen haben, gelingt mir das!“

 

° Drei Teilnehmer des ersten Camps (Dagmar Fredebeul, Peter Marx, Dietrich Wenner) fliegen nach Rom. Sie sind eingeladen zu einem Kongress für zeitgenössische Kultur im Dialogfeld mit Menschen verschiedenster Weltanschauungen – veranstaltet von der internationalen Fokolarbewegung und erzählen dort vor TeilnehmerInnen aus aller Welt von ihren Erfahrungen. Eine andere Gruppe erzählt beim Franziskusfest in Siessen  (Saulgau) vor einigen tausend Jugendlichen vom Friedensweg.

 

1997

Entwicklungen 1997 – 1999

Nach dem Camp im Sommer 96 stellt sich die Frage, ob und wie der Weg weitergehen kann. Kleinere Gruppen fahren zu Wiederaufbauarbeiten an verschiedensten Häusern im Herbst 96 und im Frühjahr 97 nochmals nach Vidovice. Sie sind so gepackt von der Not, dem Miteinander und der Hoffnung, die sie durch ihr eigenes Engagement bringen können, dass sie diese Einsätze nur mit Hilfe der Logistik des Jugendhauses – ansonsten aber eigenverantwortlich in die Hand nehmen.

Persönlich bin ich – mit je verschiedenen Personen – bis zum 2. Sommercamp im Jahr 1997 – noch vier Mal in Bosnien (Herbst und Weihnachten 96 / Frühjahr und Ostern 97), um gemeinsam mit Pfarrer Jakov und Schwester Zrinka vor Ort in Vidovice die nächsten Schritte für den gemeinsamen Weg zu verstehen. Vor Ort nehmen wir viele Zwistigkeiten zwischen verschiedensten Gruppen wahr. Unser Vertrauen zum Pfarrer wächst langsam. Bischof Sudar macht uns bei mehreren Besuchen in Sarajevo immer wieder Mut, weiter zu gehen.

 

Am 3. Ostertag 1997 kommt es zu einem kleinen „Qualitätssprung“ des Weges. Wir sind unterwegs mit Carolin Klaasen van Husen (Praktikantin im Jugendhaus, sie hatte beim Einkehrtag des Jugendhauses mit Richard Schmidt aus Berlin beim Mittagessen von dem Friedensweg gehört und war sofort entbrannt: „Ich will mit!“), Nelson Giovanelli (Fazenda da Esperanza aus Brasilien) und Klaus Rautenberg (Fazenda) und ich. Wir teilen bei noch winterlicher Kälte viel Zeit mit den Jugendlichen vor Ort. Die Kirche des Ortes ist noch völlig zerstört. So treffen wir uns in einer provisorischen Kirche. Wir singen gemeinsam Lieder und erzählen kleine Erfahrungen. Die Konkretheit trifft. Ein solches Klima des gegenseitigen Vertrauens haben wir während des ersten Jahres so noch nicht erleben können. Der Text eines Liedes vom ersten Weltjugendtag 1986 in Rom trifft die Erfahrung. Es heißt in diesem Lied: „Wenn Du unter uns bist, gibt es keine Nacht!“ Kleine Armbänder, die wir noch schnell in Orasje besorgen, sollen uns in den nächsten Monaten an diese Erfahrung erinnern. Nach dem mittlerweile sechsten Besuch sind das die ersten kleinen Zeichen der Gegenseitigkeit. Berislav, ein junger Seminarist aus dem Kleinen Seminar in Zadar und Franjo, ein junger Priester, der zurzeit in Rom studiert und zu Hause ist, bieten uns an, einen Tag mit uns zu verbringen. Mit ihnen und dem Pfarrer entscheiden wir die Baustellen, auf denen wir im Sommer arbeiten werden. Wir planen weiterhin für das Sommercamp 97 neben den Renovierungsarbeiten eine Kunst- und eine Musikgruppe. Bei den Treffen mit den Jugendlichen aus Vidovice entwickeln wir gemeinsame Ideen für das Sommercamp. Sie können sich vorstellen, in kleinen deutsch-bosnischen Gruppen während des Camps zusammen zu leben und zu arbeiten und kleine Beiträge für einen „Friedensabend“ in der zerstörten Kirche vorzubereiten. Aus Pantomimen, Liedern, Tänzen, Musik und Skulpturen soll der letzte Abend als ein gemeinsamer Abschlussabend des Camps gestaltet werden, mehr noch, als „Friedenskonzert“ für die Posavina-Ebene. Als wir fahren ist klar: Im Camp 1997 gibt es eine Bau-, eine Kunst- und eine Musikgruppe.

 

Neben allen Planungen für das Begegnungsnetz in und mit Vidovice bleibt unser Blick auf die gesamte Situation von Bosnien gerichtet. In einem Rundbrief an die Freundinnen und Freunde des bosnischen Friedensweges, deren Zahl auf über 400 Personen angewachsen ist, aus der Karwoche 1997 heißt es: „Zum Schluss noch zwei Blitzlichter aus anderen Regionen Bosniens. Wir haben noch einen Kurzbesuch in Mostar einrichten können. Die Situation dort hat mich innerlich fast zerrissen. Die Stadt, wie Sarajevo das ehemalige Zeichen eines gelingenden Miteinanders zwischen Religionen, ist immer noch wie im Kriegszustand. An der 1993 zerstörten Brücke, die mittlerweile durch eine Stahltrosse wieder befahrbar gemacht worden ist, standen auf beiden Seiten ungezählte gepanzerte S-FOR-Wagen. Überall Soldaten mit MG im Anschlag. Die Angst in der Stadt haben wir körperlich gespürt. Und überall diese vielen Jugendlichen, deren Leben in dieser Situation so aussichtslos dahinfließt. Am liebsten wäre ich dort geblieben, um diese Hoffnungslosigkeit mit ihnen zu teilen…“ Und dann der Besuch bei einem jungen Priester in Tuzla, der weder Pfarrhaus noch Kirche hat.10 % katholische Kroaten kommen dort auf 90 % Muslime. Wir erleben einen immer tiefer werdenden Graben zwischen beiden Ethnien. Mutlos wirkte der junge Priester, der auch aus Vidovice stammt. Als wir ihn 10 Tage später in Sarajevo wieder treffen, kam er hinter uns her gelaufen: ‚Danke, dass Ihr mich in Tuzla besucht habt!’ Es stimmt wirklich: Keine noch so kleine Geste von Verstehen, Friedensbereitschaft, Zuneigung und menschlicher Wärme geht jemals verloren.“

 

Das Sommercamp 1997 findet vom 09.-28. Juli statt. Es sind 47 junge Leute, die sich mit 7 Transportfahrzeugen auf den Weg machen, schon international bestückt – aus Tschechien und Deutschland und Bosnien. Denn „aus Bosnien“ nehmen wir Suvad Veletanlic, einen jungen Flüchtling in Deutschland, der in sein Heimatland zurück muss, mit. Er taucht von nun an immer wieder im Geschehen des Friedensweges auf.

In der Verantwortung der Künstler Dietmar Zensen und Karsten Schwenzfeier (ehemaliger Zivildienstleistender des Jugendhauses) entstehen mehrere kreative Arbeiten. Noch heute im Jahr 2008 weist an der Hauptstrasse Orasje – Sarajevo ein großes buntes Willkommensschild aus Holz auf Vidovice hin. Höhepunkt des Camps ist das erste Friedenskonzert (koncert mira 97) in der zerstörten Kirche von Vidovice. Gemeinsam mit einer Franziskanischen Musikgruppe „Frama“ und einer weiteren bosnischen Gruppe „Krobos“ hatten wir unter dem Thema „Keine Rose ohne Dornen“ den Abend des Friedenskonzertes vorbereitet. Unsere gemeinsam entwickelte Botschaft war: Es gilt in jedem Schmerz zu stehen und dann in Liebe weiter zu gehen.

Zum Konzert kamen ca. 1000 Besucher. Im Radio hatten wir musikalische Kostproben gegeben und eine 45-minütige Sendung für „Radio Orasje“ gestaltet. In allen Orten der Posavina hatten wir gemeinsam plakatiert. Direkt an der Grenze hing eine große Banderole quer über der Strasse und wies auf das Konzert hin. Alle in der Gegend stationierten UN-Truppen hatten wir informiert und in Orasje noch werbend Straßenmusik aufgeführt. Und sie kamen – aus allen Ecken und Gruppen. Eigens reiste ein Bus aus dem Erzbistum Paderborn (Pfarrgemeinde Bonenburg) an und noch einige Brasilianer, frei Hans Stapel und Nelson Giovanelli von der Fazenda. Es wurde ein unvergesslicher Abend. Es fanden sich über 1300 Gäste – vorrangig aus Nordbosnien ein.

 

Drei Reaktionen: Ein Einheimischer sagte: „Zusammen haben wir diese Kirche aufgebaut – viel Zeit und Kraft investiert. Es war eine schöne Zeit. Wir haben aber nicht mehr erlebt, dass sie eingeweiht wurde. Denn der Krieg begann. Nur das, wo wir jetzt stehen, also diese  Ruinen blieben uns nach dem Krieg übrig. Und jetzt ist es das erste Mal nach dem Krieg, dass wieder so viele Menschen, vor allem junge Menschen hier zusammen gekommen sind. Ihr und die Musik habt uns zusammen geführt. Kommt doch bitte wieder! Denn das gibt unserem Land und unseren Leuten Hoffnung!“

Während eines Programmpunktes kamen aus einigen Ecken der zerstörten Kirche zwischen den großen Mauerresten Kinder mit brennenden Kerzen in ihrer Hand hervor. Sie zogen auf verschiedenen Wegen durch die Zuschauermenge zum Altarraum. Ganz langsam und vorsichtig, ihre Kerze haltend, suchte sich ein kleines bosnisches Mädchen ihren Weg durch die Zuschauer und zog dabei an uns vorbei. Ein dunkelhäutiger Soldat der S-FOR-Truppe sagte mir mit Tränen in den Augen: „Schau, sie sieht aus wie ein Engel!“

Als während des Konzertes einheimische Lieder gesungen und getanzt wurden – auch zum ersten Mal wieder nach dem Krieg –flüsterte uns die 12-jährige Andrea aus Vidovice zu: „Das ist unsere Musik! Ich war die letzten Jahre in Österreich. Aber jetzt bleibe ich hier! Ich weiß: Das hier ist meine Heimat, hier sind meine Freunde und hier fühle ich mich wohl!“

 

Mit diesem Konzert ging das zweite Begegnungscamp in Bosnien zu Ende. Einige Reaktionen der jugendlichen deutschen TeilnehmerInnen: „Obwohl wir so einfach gelebt haben und uns in der alten Schule sehr behelfen mussten, waren diese Tage, die wir hier miteinander gelebt haben, die glücklichsten meines Lebens, ich habe viel gelernt!“ Ein Anderer. „Angesichts der vielen Zerstörungen in diesem Land ist viel Kaputtes in mir selber erneut ans Licht gekommen. Ich konnte das zulassen und darüber reden!“ Ein Mädchen kurz vor ihrem Studienbeginn: „Ich habe in diesen Tagen erstmals verstanden, was es heißt, Christ zu sein und wie man es werden kann: nämlich nur durch konkret getane Schritte der Liebe!“ Ein Anderer. „Nach 10 Tagen des Zusammenlebens auf so engem Raum war für uns jegliche Euphorie vorbei. Frieden zu halten wurde ernst – auch unter uns. Der Impuls eines Tages ‚Lieben – das können wir immer!’ war für mich eine große Hilfe, auch mit den schwierigen Momenten im Camp umzugehen!“ Ein Mädchen: „Durch unsere gemeinsamen Tage in Bosnien habe ich verstanden: Wir dürfen nicht beim eigenen Leid stehen bleiben. Und dabei hilft mir, immer konkrete Schritte der Liebe zu tun!“

 

Gerade diese letzte Erfahrung spiegelt einen Gedanken von Bischof Lehmann wieder, den er uns am 03.04.97 schreibt: „Ich denke, das Wichtigste ist vielleicht nicht die materielle Hilfe zum Wiederaufbau, die wir geben können, sondern, dass wir den Menschen zeigen, dass wir zu ihnen stehen. Das sind wirkliche Zeichen der Hoffnung und der Liebe, die Kraft und Mut schenken. Gerade in den Tagen der Kar- und Osterzeit, wenn sich unser Blick auf den leidenden Gott richtet, dann muss uns das förmlich Ansporn sein, so wie er den leidenden Menschen bei zu stehen. Das geht nicht aus der Distanz!“

 

Zwei junge Camp-Teilnehmer, beide Studenten, investieren noch  mehr. Claudia Kroll und Rainer Hake verbringen 3 Monate im Herbst und Winter 1997 in Bosnien und bauen in dieser Zeit das Haus eines alten hilfsbedürftigen Ehepaares wieder auf. Alles Bauliche gelingt gut, aber unser Eindruck – immer wieder im Team des Jugendhauses reflektiert – ist: Die Begegnung zwischen den Jugendlichen beider Länder wächst nur langsam. Wir überlegen, Gegeneinladungen zu starten. Ostern 1998 kommen erstmals Jugendliche aus Vidovice und Sarajevo und aus kleinen Dörfern Nordtschechiens und aus Litauen nach Hardehausen, um die Kar- und Ostertage gemeinsam zu verbringen. „Ostern international“ – nennen wir von nun an diese jährlich stattfindenden Begegnungen. Aus Bosnien wird die Gruppe von Schwester Zrinka aus Vidovice begleitet. Aus Sarajevo kommen Ida und Ines, ein Zwillingspaar, Vedran, Janja und Berislav. Wir feiern alle Liturgien so gut es geht zwei-sprachig und bringen unsere je verschiedenen Situationen in der Liturgie vor Gott. Trotz der Sprachbarrieren gelingt die Begegnung sehr gut. Am Abend des ersten Ostertages fahren wir – wie auch in den folgenden Jahren – zu den abendlichen Osterbräuchen, vorrangig den Osterfeuern nach Attendorn.

 

ein erster Blick nach Sarajevo

Schon Ende 1996 – nach dem ersten Camp – bewegen uns Fragen im Team des Jugendhauses, wie sich der Weg – unserem Auftrag als Jugendbildungsstätte folgend – entwickeln kann. In einem Brief an Erzbischof Degenhardt ist zu lesen: „Die ersten Erfahrungen, die wir in dem kleinen Dorf Vidovice sammeln konnten, waren ein gelungener Schritt, um die bosnische Realität in unseren Herzen zu verankern. Mittlerweile wird deutlich, dass die Pfarrei Vidovice auf Zukunft hin kein Ort sein kann, in dem längerfristige Jugendbegegnung verankerbar ist. Für diese Pfarrei braucht es vielmehr eine deutsche Partnerpfarrei! (…) Was die Initiative unseres Jugendhauses betrifft, ist mir ein Brief von Bischof Sudar sehr haften geblieben. U.a. schrieb er: ‚Ihr habt auch von Stup geschrieben. Wer weiß, ob sich eine Gruppe Jugendlicher für nächstes Jahr für Stup entscheidet, für das Gebiet von entscheidender Rolle für uns!’ Mir kam die Frage, ob Sarajevo selbst ein Ort sein kann, wo wir beginnen, Kontakte zu knüpfen, um dort Jugendbegegnung möglich zu machen. Wichtig erscheint uns, den bosnischen Christen keine fertige Idee vorzusetzen, wie wir uns solche Kontaktmöglichkeiten vorstellen – in dem wir beispielsweise ein Jugendhaus in kleinem Stil mitbauen helfen. Augenblicklich suchen wir vielmehr Kontaktpartner, die in Sarajevo an Jugendbegegnung interessiert sind.“

 

1998

Im Sommer 1998 findet vom 8.-27. Juli das 3. große Aufbaucamp 98 in  Vidovice statt. Es nehmen 42 deutsche, 6 tschechische und 3 bosnische junge Erwachsene aus Sarajevo am Camp in Vidovice teil. Insgesamt gehören der Camp-Crew dieses Jahr 65 Leute an. Das Konzept vom Vorjahr bleibt ähnlich. Renovierung – Kunst – Musik – Workshops prägen das Camp. Wiederaufbauarbeit leisten wir auf den Baustellen bei älteren Menschen und bei Familien. U.a. arbeiten wir bei Familie Marsic. Martin und Simo sind die beiden Söhne. Simo studiert Theologie. Er wird ein Jahr später zum Priester geweiht. Wir halten über die Jahre lebendigen Kontakt. Nach seiner ersten Vikarstelle in Novo Sarajevo geht er für 5 Jahre nach Rom und wird über das Thema „Jugendpastoral in Bosnien“ promoviert. Heute ist er Jugendpfarrer der Erzdiözese Sarajevo. Gegen Ende des Camps `98 in Bosnien bündeln sich die Aktivitäten erneut in einem großen Friedenskonzert.

 

Amador Cicuendez, ein spanischer Künstler, hört von dem Friedensweg und entscheidet sich mitzufahren, um mit den jungen Leuten vor Ort „Friedens-Kunst“ entstehen zu lassen. In seinem Atelier in Osnabrück fertigt er einen übergroßen Christus-Corpus aus Schrott an, der einige Tage in der Kirche des Jugendhauses Hardehausen liegt und dann mit auf die Reise geht. An der Stelle des Herzens baut  er dem „bosnischen Gekreuzigten“ eine alte Fahrradklingel ein. Gottes Herz schlägt und „klingelt“ für die Menschen, die ihrerseits „im Schrott“ leben müssen. Diesen Corpus hängen wir unter Beteiligung der Bevölkerung vor dem Schwesternhaus in Vidovice auf. Der Ort vor diesem Corpus ist zu einem echten Ort des Gebetes geworden, an dem häufig Kerzen brennen. In einem Begleittext zu dem bosnischen Gekreuzigten ist zu lesen: „Das Gesicht des Gekreuzigten zeigt das Leid der bosnischen Bevölkerung wie in einem einzigen Aufschrei. Die geöffneten Hände weisen darauf hin, dass Jesus um diese Not weiß und alles Leid dieser Welt in sein Leiden mit hinein nimmt.“ Neben diesem Gekreuzigten fertigt Amador eine zweite Skulptur „Rückkehr in die Traurigkeit“. Er stellt sie an einem zentralen Platz des Dorfes auf. Im Kunst-Workshop mit ihm und zwei weiteren Künstlern entstehen neben Schrottcollagen wunderschöne Geräte für den Kinderspielplatz von Vidovice. Kurz vor Ende des Camps weihen wir den Spielplatz unter großer Beteiligung aller Kinder ein. All diese Begegnungen werden im dritten Tagebuch fest gehalten.

 

In Rietberg findet sich eine Gruppe Jugendlicher zusammen, die gemeinsam mit ihrem Vikar Christian Heim am Camp teilnehmen. Herr Mertens, ein Busunternehmer des Ortes, ist so bewegt von dem hohen Engagement der jungen Leute, dass er uns für dieses Jahr 4 Fahrer unentgeltlich zur Verfügung stellt. Wir zahlen nur den Bus und brauchen uns weitere um Transportmöglichkeit nur noch wenig Sorgen zu machen.

 

Hans Schotte, ein professioneller Video-Produzent, bietet sich an, ein Video über den Friedensweg zu drehen. In Tagebuchnotizen heißt es dazu: „Hans hat gleich das innere Anliegen des Friedensweges verstanden, nämlich inmitten all der Zerstörungen des Krieges zu lernen über alle Grenzen hinweg miteinander zu leben. So stand dann ‚nur’ noch die Frage im Raum, ob wir den erforderlichen Geldbatzen für ein solches Video organisieren könnten. So hab ich mit Gott nach langem innerem Ringen einen ‚Kuhhandel’ gemacht! Wenn wir innerhalb der nächsten 10 Tage mindestens die Hälfte des Geldes zusammen haben, glauben wir, dass auf all dem Sein Plan liegt, wenn nicht, lassen wir’s fallen. Sofort schrieben wir eine Menge an Großinvestoren an und nach drei Tagen (!!!) war die Hälfte des Geldes da!“

 

Am 29.11.1998, dem ersten Advent – gleichzeitig haben wir auch die Veranstaltung „Advent international“ zu der sich junge Leute aus Tschechien und Litauen einfinden, gestartet - präsentiert Hans Schotte das Video erstmals in Hardehausen. Es kommen so viele Interessierte zum Adventskaffee, dass wir in die Hardehauser Kirche ausweichen müssen.

 

Am Ende dieses Jahres 1998 bleiben mir vor allem zwei besonders kostbare Augenblicke auf dem Friedensweg: Der eine trug sich mit Weihbischof Sudar zu. Er sagte uns bei einem Besuch: „Viele Menschen, gerade auch hier in Bosnien-Herzegowina, meinen, sie könnten den Frieden machen. Aber das geht nicht! Wir können zwar viel dafür tun, dass Friede wird, aber letztlich ist und bleibt er ein Geschenk. Der Friede ist Gabe Gottes!“ Und dann nach einer kurzen Zeit des Nachdenkens sagte er weiter: „Wir müssen für den Frieden leben und kämpfen, solange er noch da ist. Wenn der Friede weg ist, wenn Krieg herrscht, dann geht bei den Menschen und in ihren Herzen soviel kaputt, dass es lange, lange Zeit braucht, um davon wieder geheilt zu werden. Der Krieg zerstört die Herzen! Wenn Ihr in Deutschland dafür lebt, dass auch in Eurem Land kein Krieg mehr ausbricht, dann tut Ihr ein großes Werk!“

 

Der zweite Augenblick ereignete sich in eben jener Stadt. Ida, eine junge Frau, die während des Krieges in Sarajevo geblieben war, erzählte uns von ihrem Leben während des Krieges. „You know, during the war it was hard to find the source of joy. So we started to go to one community. During three or four years we came together for singing, praying and sharing our experiences – sitting around one candle because there was no electricity. And I think in that moments we could feel how God is close to us!”

 

Und dann sind wir immer und immer wieder zu Feiern eingeladen. Allein dieses Jahr sind es drei Primizen, die wir mitfeiern können. In einem Brief ist zu lesen: „36 tote Schweine, dazu wannenweise Krautsalat, kanisterweise Slivovic, hängerweise pivo (Bier)… Aber anders kann man einfach nicht mit 1500 Leuten feiern. Und wir natürlich mittendrin. 20 Leute von uns haben mitgeholfen, damit die Bedienung der Gäste reibungslos ablaufen konnte. Aber keine Angst, das war noch nicht die letzte Primiz. Andreas und Simo, zwei weitere Neupriester aus Vidovice, haben uns schon jetzt zu ihrem Fest eingeladen. Ob es wohl noch so viele Schweine gibt?“

 

Ermutigung zur Internationalität

Vermehrt brechen junge TeilnehmerInnen aus den Camps nach dieser Erfahrung auf und verbringen ein Jahr oder mehr im europäischen oder außereuropäischen Ausland. Insgesamt ist die Zahl auf fast 100 der ca. 350 internationalen TeilnehmerInnen aus den 13 Jahren Friedensweg angewachsen. Zu den ersten Mutigen gehören Sonja Küster und Holger Gerhard. Sonja geht für ein Jahr ins Hochland von Bolivien und schreibt uns irgendwann von dort: „Oft bin ich ziemlich am Ende! Und dann ist’s ganz dunkel in mir! Dann denke ich einfach an die vielen in Bosnien, mit denen ich versucht habe, total konkret zu lieben – immer als erste – wie mich – und zwar alle! Und dann versuch ich’s noch einmal. Und dann geht’s auf einmal!“ Holger geht für 18 Monate mit der Aktion Sühnezeichen nach Israel und arbeitet dort zunächst in einem Kinder- und dann in einem Altenheim. Viel später, im Jahr 2001 werden Annedore Wilmes und Stefan Kube als erste für ein halbes Jahr nach Sarajevo gehen. Stefan studiert an der dortigen theologischen Fakultät, Annedore arbeitet in einem Kindergarten mit. Damit legen sie die Grundsteine für einen Weg des Austausches, denn nach ihnen gehen Kristina Kuhn, Thomas Wittenberg und Michael Aust für eine Zeit nach Sarajevo und ins Jugendhaus kommen ab 2001 zunächst Dragana Lasica, dann Emica Boric und Ivana Veza, sowie Nedo und Neno und Nikolina Tuka und Martina Ivanco, um ein Freiwilliges Soziales Jahr im Jugendhaus Hardehausen zu absolvieren.

Auch „europäische“ Studiengänge erschließen sich für einzelne. Sebastian Fietkau und Judith Schulte studieren u.a. „europäisch“ in Maastricht und verbringen Praktika und Auslandssemester an verschiedensten Unis Europas.

 

1999

highlights `99

Das Jahr 1999 beginnt mit einem Brief an viele „Camp-Interessierte“, der von einem nicht abebbenden  Interesse vieler junger Leute erzählt. „Der Termin für unsere nächste größere Wiederaufbauaktion in Bosnien steht endgültig fest: wir fahren vom 28. Juni bis zum 20. Juli 1999. Es sind noch fast 5 Monate bis dahin. Doch schon jetzt haben sich über 50 junge Leute mehr oder weniger fest zur Teilnahme angemeldet. So sehr uns das freut, sind wir doch traurig, dass  wir möglicherweise einigen Interessenten absagen müssen.“

 

Wenige Tage danach erreicht uns ein Brief von Ida und Ines, dem Zwillingspaar, denen ich erstmals in einer Video-Aufzeichnung eines großen Jugendtreffens in Loretto (Italien) begegnet bin. Sie waren als Delegation Bosniens angereist und erzählten von der schweren Situation ihres Landes. Diese Begegnung  via TV war mir tief ins Herz gefallen. 1997 waren wir erstmals bei ihnen zu Hause. Ida schrieb am Beginn des Jahres 99: „Wie viele junge Leute aus Bosnien und Herzegowina habe ich all die tragischen und schweren Augenblicke des grausamen Krieges durchlebt. Für mich ist es schwierig, Hoffnung am Beginn des 3. Jahrtausends zu sehen. Kann überhaupt Hoffnung aufkeimen, wenn immer noch viel Hass in menschlichen Herzen hier lebt? Kann Hoffnung aufbrechen, wenn viele Menschen ihr nicht trauen und weiterhin gegeneinander kämpfen? Ich verstehe das Misstrauen, das in den vier Jahren des Zerstörens und des Mordens gewachsen ist. Aber ich will es einfach nicht glauben, dass wir jungen Leute keine Chance haben, diese Barrieren zu überwinden und einander Recht auf Leben zuzustehen. Im Gegenteil, ich weiß, dass wir Jugendlichen die einzigen sind, die diesem Planeten Hoffnung geben können. Deshalb möchte ich Euch, Ihr Jugendlichen in Deutschland, ermutigen, nicht aufzugeben im Kampf für eine gerechte Zukunft. (…) Wir tragen Verantwortung für unsere eigenen Städte, für die Gegenwart und für die Zukunft. Wir glauben daran, dass die Ideale, denen wir vertrauen, Gutes und Positives in den Herzen derer hervorrufen, die mit uns leben. Unsere Aufgabe ist es, Samen in den Boden zu werfen, Samen der Würde voreinander und des gegenseitigen Respekts. Samen eines neuen Miteinanders. Auch wenn wir nicht sofort die Früchte unserer Anstrengungen sehen, so werden sie doch hervorbrechen und zu wachsen beginnen. Entscheiden wir uns immer wieder neu für den Menschen und sein Leben! Gott ist auf unserer Seite und er wird es immer sein! Er ist mit uns als die Macht, die stärker ist als alles, als die Macht der Liebe! Er wird uns im dritten Jahrtausend leiten! Wir sind mit Euch auf diesem Weg!“

 

Diese Begegnung mit Ida über und in ihrem Brief trifft viele junge Leute. Beim Treffen „Ostern international 99“ ist Ida mit ihrer Schwester mit dabei. Ihr Erzählen bewegte noch mehr. „Wir trafen uns zum Beten und Singen in kleinen Räumen. Ich erinnere mich noch an einen Sonntagabend. Die Stimmung unter uns war besonders gut. Am nächsten Tag wurde einer unserer Freunde durch einen Granatangriff schwer verletzt. Wir beteten alle für ihn. Zwei Tage später starb er. Zuerst haben wir Gott angeschrieen: Warum all das Töten und Morden? Aber zugleich war ich mir sicher, dass unser Freund jetzt bei Gott im Himmel war. Und dann kam mir der Gedanke: Auch ich kann von jetzt auf gleich vor Jesus stehen. Und dann hab’ ich kapiert: Ich kann ja schon jetzt – in jedem Augenblick – für IHN leben. Er verbirgt sich ja in jedem Menschen und will dort geliebt sein. Und das hat mir mitten im Krieg eine solche Freude gegeben, die auch jetzt in mir geblieben ist. Ich wünsche diese Entdeckung der Freude auch allen Jugendlichen hier in Deutschland!“

 

Diese Ent-Deckung gab Ida an deutsche, tschechische, bosnische und litauische junge Leute weiter. Sie prägte das Zusammensein der jungen Leute und auch die Liturgie während der Kar- und Ostertage. In der Osternacht erzählten bosnische Jugendliche von ihren letzten Jahren. Berislav aus Vidovice erzählte: „Im Krieg hatten wir oft den Eindruck, ganz vergessen worden zu sein. Und nach dem Krieg sind wir uns oft wie ein Müll-Abladeplatz vorgekommen. Viele Leute brachten uns Sachen, die sie nicht mehr brauchten, aber wir haben nicht gespürt, dass sie uns gern hatten. Und dann vor zwei Jahren kam diese Gruppe hier aus Hardehausen. Sie kamen als Fremde und gingen als Freunde. Denn wir haben schon ganz früh ihre Liebe gespürt. Sie kamen nicht nur einmal, sondern immer wieder. Und jetzt sind wir hier (in Hardehausen!). Das ist für uns das größte Geschenk und das größte Ostern, was wir bisher erleben konnten!“ Immer wieder klatschten die Gottesdienstbesucher. Als sich die jungen Leute am Ostermontag wieder auf den Weg machten, sagte Schwester Eremberta: „Nein wir dürfen sie alle nicht wieder fahren lassen. Sie müssen hier bleiben! (Und dann nach einer kurzen Pause:) Aber wenn wir unsere Herzen füreinander verloren haben, dann halten wir einander im Herzen!“ Lida aus Prag: „Ostern hat ja mit meinem Leben zu tun. Das hab’ ich bisher noch nie erfahren. Ja, ich möchte es noch stärker sagen: Ostern ist mein Leben! Und wie klein sind die Sorgen und Probleme, die ich in meinem Leben oft hab, wenn ich das vergleiche mit dem, was andere durchlebt haben. Ich freu mich so sehr auf den Sommer, wenn wir dieses Leben in Bosnien weiter teilen können. Bis dahin werde ich es in Prag versuchen. Aber ich weiß, wir sind verbunden!“

 

Und dann führte der Weg die Gruppe noch nach Attendorn. Mit viel Liebe hatte meine Schwester mit ihrem Mann einen Kaffeetisch vorbereitet – mit Attendorner Ostersemmel. Dieser Tag – so erfuhren wir – war ihr Verlobungstag. Spontan entschieden wir, diese Augeblicke „international“ zu gestalten. „Rajem – durch das Paradies“ sangen die Tschechen. Wir erzählten Erfahrungen, wie die Liebe durch das Geheimnis des Kreuzes gelingt, dann der Ringsegen und noch ein bosnisches Lied. Ihre Reaktion. „Wie sehr hat Gott uns doch beschenkt! Wir hatten zunächst überlegt, uns in aller Stille zu verloben. Und jetzt haben wir die ganze Welt hier um uns. Unsere Ringe sind ‚neu’ geworden. Sie enthalten jetzt die Welt. Und wir verstehen neu: Unsere Liebe füreinander ist nicht nur für uns, sondern sie ist für viele. Das möchten wir leben!“

Und noch zwei kleine Bausteine des Friedensweges dieser Tage. Auf der abendlichen Fahrt nach Kassel, von wo die Tschechen mit dem Nachtbus wieder zurück fuhren, meine Frage an sie: Können wir Euch noch mit ein wenig Geld helfen, dass Ihr die Reise finanziert bekommt? Liba: Nein, nein, wir kriegen das schon hin. Andere brauchen das Geld viel dringender! Spät abends öffne ich dann noch einen Briefumschlag der Tschechen. „Wir haben unter den Studenten in Prag ein wenig für Vidovice gesammelt!“ Ich fand einige hundert Mark in dem Umschlag – von denen, die selber nur wenig haben.

Und das Gleiche von Berislav. Er hatte von der Not eines kamerunschen Ehepaares gehört, die schon zwei Kinder hatten und jetzt noch Zwillinge erwarteten. Auch er drückte mir einen Briefumschlag in die Hand. „Hier, hab ich für die Afrikaner gesammelt – im Priesterseminar in Sarajevo!“ Was für eine Bereicherung! Der „Kultur des Konsums“ setzt sich hier durch das konkrete Leben eine „Kultur des Gebens“ entgegen.

 

Diese Erfahrung geteilten Lebens wie auch eine Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zur Kosovo-Frage – Mitte des Jahres 99 brodelt es erneut im Kosovo und aufgrund intensiver Nato-Bombardements auf Serbien ist lange nicht klar, ob wir unser Sommercamp durchführen können – ermutigen uns, weiter zu gehen. Der ständige Rat der DBK schreibt: „Darüber hinaus besteht wie in Bosnien die Verpflichtung, jede Chance für eine Friedens- und Versöhnungsarbeit in kirchlicher Trägerschaft zu nutzen. Wir ermutigen alle, die auf diesem Feld tätig sind, in ihrem entschlossenen Engagement nicht nachzulassen und wollen dieses tatkräftig unterstützen, wo immer sich dazu konkrete Möglichkeiten eröffnen!“ Die Entscheidung fällt im Sommer 99 ein letztes Baucamp in der Strickart der vergangenen drei Jahre in Vidovice durchzuführen. Das Friedenskonzert wird erneut ein großer Erfolg mit weit über 1500 Teilnehmern. Die Professionalität der 4 eingeladenen bosnischen Bands hat einen hohen Grad erreicht. Die jährlichen Friedenskonzerte sind für die gesamte Posavina-Ebene gut installiert und akzeptiert. Die Gesamt-Organisation dieser Veranstaltung liegt mittlerweile ganz in den Händen des Dorfes.

 

Rainer Hake, ehrenamtlicher Mitarbeiter im Jugendhaus Hardehausen und mehrmaliger Friedenswegteilnehmer, beendet seine Diplomarbeit im Rahmen seines KFH-Studiums zum Thema des bosnischen Friedensweges: „Wir kamen als Fremde und gingen als Freunde – Was können internationale Jugendgemeinschaftsdienste in unserer Zeit noch bieten?“

 

Zum Tag des 25-jährigen Bischofs-Jubiläums von Kardinal Degenhardt fand in Paderborn ein „Tag des Ehrenamtes“ statt. Auch unsere Bosnien-Initiative war herzlich eingeladen. Mit Trecker und Bausteinen postierten wir uns vor dem Dom und verkauften „Bausteine“ für Vidovice. 10 000 Menschen nahmen teil.

 

Am 12. Juni des Jahres hatte Erzbischof Degenhardt Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolarbewegung im Rahmen der Themenreihe „lebenswert“ in den Dom zu Paderborn eingeladen. Im Vorprogramm – von unserem Hardehauser Team vorbereitet – waren u.a. 6 kurze Erfahrungen von jungen Leuten vorgesehen unter dem Thema „wofür es sich zu leben lohnt!“ Zwei deutsche junge Frauen erzählten von ihren persönlichen Erfahrungen in Bosnien und Ida und Ines, eigens aus Sarajevo angereist, erzählten, wie sie im Krieg unter Bomben Gottes Nähe neu entdeckt hatten. Nach dem Impulsreferat von Chiara Lubich zum Thema des Vater-Seins Gottes, trugen junge Leute ihre Fürbitten vor Gott. Ida und Ines baten um den Geist der gegenseitigen Achtung für ihre Stadt Sarajevo. In einem Brief aus diesen Tagen ist zu lesen: „Ich stand nicht weit von den beiden entfernt. Mir kamen die Tränen. Und ich verstand in diesen Augenblicken tiefer, dass wir den Friedensweg, den wir vor vier Jahren begonnen hatten, für dieses Land und vor allem für all diese Jugendlichen weitergehen müssen. (…) Ich verstand den Weg „Hände für den Frieden – dem Frieden Hände geben“ auf einmal als ein kleines Mosaiksteinchen aus und in diesem Charisma der Einheit geboren. Später rief ich die beiden nochmals an, um sie an diesem für mich so bewegenden Augenblick teilhaben zu lassen. Ida erwiderte: ‚Meinolf, es war genau in diesem Augenblick, dass auch ich so tief bewegt war und das Gleiche gedacht habe. Wir müssen wirklich weiter gehen mit Jesus in unserer Mitte, damit ER unsere Stadt und unser Land neu machen kann!“

 

Das vierte Sommercamp fand statt vom 28.06. – 20.07.1999. Aufgrund der Kosovo-Krise haben einige angemeldete Teilnehmerinnen sich abgemeldet. Leider galt das auch für vier Novizinnen der Franziskanerinnen aus Siessen. Schwester Simone, die Generaloberin, hatte ihren Generalrat leider nicht überzeugen können, die Schwestern mitfahren zu lassen. Aber dennoch nahmen über 50 junge Leute teil. Gearbeitet wurde wieder auf Baustellen, und in Kunst und Musik-Workshops. Sie kamen erneut aus Deutschland und Tschechien und aus Korea und Brasilien. Erneut stand ein Besuch in der Hauptstadt Sarajevo auf dem Programm. „Etwa 20 Jugendliche aus Sarajevo erwarteten uns schon mit kühlen Getränken in ihrer Stadt.  Sie alle waren während des Krieges in Sarajevo geblieben. Sie haben uns all die Orte der Massaker gezeigt, die wir bisher nur aus dem Fernseher kannten, die Stelle mitten auf dem Markt, wo ungefähr 60 Leute unter Granaten gestorben sind, den Platz des Brotschlangen-Attentats… Aber obwohl das alles grausame Kriegsfakten sind, war es befreiend, mit den Jugendlichen zu sein. Trotz des Schweren haben wir viel gelacht, gescherzt und einander kennen gelernt.“ So stand es in einem der aus dem Camp an die „Daheimgebliebenen“ abgesendeten Rundbrief und im vierten Tagebuch „…und wieder neu in Richtung Balkan“ – 4. internationaler Friedensweg des Jugendhauses Hardehausen.

 

Im pädagogischen Team des Jugendhauses brennt uns die Frage nach dem Fortgang des bosnischen Friedensweges auf den Nägeln. Vor allem bewegt uns seit Jahren die Frage, ob das Dorf Vidovice der richtige Ansprech- und Kooperationspartner für eine Jugendbildungsstätte ist, da wir die Begegnung deutscher und bosnischer Jugendlicher als ein wichtiges Ziel des Friedensweges ansehen. Die Überlegungen bekamen neue Aktualität durch eine kurze Begegnung mit Kardinal Puljic in den bosnischen Bergen, in der der Kardinal von seinem Traum sprach ein altes - möglicherweise von der Caritas zu erstehendes - Haus als Jugendbildungszentrum auszubauen. Er sagte uns damals: „Ihr habt eine Idee! Ich habe eine Idee! Jetzt haben wir zusammen eine Idee.“ Zum Abschied dieses kurzen Zusammenseins sagte er: „Ihr müsst unbedingt bald wieder kommen. Denn Ihr lebt schon so lange für unsere Leute. Das finden wir nicht sehr oft in Bosnien. Kommt im November wieder, dann bin ich von der Bischofssynode in Rom zurück. Dann schauen wir gemeinsam das Haus in Sarajevo an. Und ladet Euren Erzbischof Johannes Joachim ein! Ich lade ihn ganz persönlich hier nach Sarajevo ein.“ Und dann ging er inmitten all des Staubes an sein Auto und holte noch eine kleine Silbermedaille vom Papstbesuch in Sarajevo für Erzbischof Degenhardt heraus. Daraufhin haben wir uns verabschiedet, wie Brüder. Er wiederholte noch einmal strahlend: „Ja; wir müssen uns wieder sehen! Ganz bald! Also bis spätestens November.“

 

So traf sich am 21.10.1999 eine Gruppe der Bosnien-Engagierten, um den zukünftigen Weg zu erörtern. Als Ergebnis zeigte sich ein doppelter Weg. Eine Gruppe von jungen Erwachsenen, die auch privat schon mehrfach in Vidovice gewesen und dort geholfen haben, kann sich vorstellen, auch weiterhin eigenverantwortlich - aber mit logistischer Hilfe des Jugendhauses und unter der Schirmherrschaft des Jugendhauses Hardehausen – nach Vidovice zu gehen und den Kindergarten weiter zu bauen. Eine andere Gruppe wird im Sommer 2000 erstmals nach Sarajevo gehen und dort eine Jugendbegegnungsaktion (evtl, mit Friedenskonzert) und dem Angebot zur Hilfe beim Bau bzw. der Renovierung des (Jugend ) Hauses durchzuführen  Vorrangiges Ziel dieser Gruppe ist es, ein „Haus aus lebendigen Steinen“ entstehen zu lassen.

Weiter zeigt sich, dass beide Gruppen zeitgleich in Bosnien sein und arbeiten werden und durch das tägliche Motto des Evangeliums verbunden sind. Zudem wird die Gruppe aus Vidovice einmal nach Sarajevo zu Besuch kommen und die Sarajevo-Gruppe wird zum Friedenskonzert nach Vidovice fahren. Damit ist ein Übergang geschaffen, um den lange gerungen wurde und der reif geworden ist.

 

 

Am 14. November 1999 hält Hans Koschnik, Bosnienbeauftragter der Deutschen Bundesregierung, einen Vortrag im Jugendhaus Hardehausen. Viele der Bosnienfahrer sind gekommen. Er ermutigt sie, weiterzugehen. Am Ende seines Vortrages ruft er zu einem interreligiösen Miteinander auf. „Der Heilige Vater hat in Sarajevo deutlich gesagt: Versündigt euch nicht an denjenigen, die anders glauben! (…) Die Frohe Botschaft des Christentums ist eine Botschaft des Friedens! Es ist eine Botschaft der Schöpfung, die umfassend ist in dieser Welt. Wir leben in der einen Welt und aus dieser Verantwortung heraus sollten wir anpacken bei der Unterstützung für jene, die auf Hilfe angewiesen sind: Jedes Ding, was wir tun, ist besser, als das Ding, über das wir reden. Das wollte ich Ihnen sagen und gleichzeitig denjenigen Dankeschön sagen, die rausgefahren sind nach Bosnien und dort konkret vor Ort den Leuten gezeigt haben, dass sie nicht vergessen sind.“ Im Randgespräch bemerkte Herr Koschnik dann zu einigen jungen Leuten: „Ihre Arbeit ist darum so besonders wichtig, weil Sie mit wenig Getöse für die Menschen da sind. Lautsprecher haben wir in Bosnien schon genug!“

 

Im Herbst 1999 schreibe ich  meine Pfarrexamensarbeit über den bosnischen Friedensweg und präsentiere sie vor dem späteren Erzbischof Becker. Diese Arbeit ist verbunden mit einer ausführlichen Befragung der Teilnehmer aus den vier vergangenen Jahren.

 

Am 6. Dezember wird unserem Friedensweg im Deutschen Bundestag in Berlin der Förderpreis des Deutschen Bundestages „Demokratie fördern“ verliehen. Frau Prof. Dr. Rita Süssmuth nimmt die Preisverleihung im Auftrag von Wolfgang Thierse, dem Bundestagspräsidenten, vor. 10 Gruppen werden von insgesamt 700 Bewerbungen mit dem Preis ausgezeichnet. In der Urkunde heißt es: „Mit dem Förderpreis ‚Demokratie fördern’ zeichnen wir herausragendes bürgerschaftliches Engagement aus, das durch kreative, innovative Problemlösung und persönlichen Einsatz in den verschiedensten Bereichen unserer Gesellschaft einen unverzichtbaren Bestandteil unserer Demokratie bildet.“ Zu diesem Anlass sind wir mit einer kleinen Gruppe nach Berlin gefahren. Im Anschluss an die Preisverleihung fahren Dietrich Wenner, Thomas Bruns und ich direkt weiter nach Bosnien. Wir nehmen das Friedenslicht von Bethlehem im Auto mit, das wir während der Preisverleihung in der Dusche unseres Hotels „gerettet“ hatten.

 

Am 8. Dezember frühstücken wir mit Kardinal Puljic und kommen ausführlich über die Situation der Kirche in Bosnien in der Zeit nach Kommunismus und Krieg ins Gespräch. Der Kardinal brachte seine Idee, ein „Haus für die Jugend“ seiner Stadt von der Caritas kaufen zu lassen, ins Wort. Er ermutigt die Gruppe des bosnischen Friedensweges, mit den Priestern seiner Erzdiözese konkrete Schritte für das Haus zu überlegen. Drei jugendpastorale Arbeitsfelder werden in Blick genommen. In Tagebuchnotizen heißt es: „Es braucht eine geistliche ‚formazione’ – wie der Kardinal sagt - will sagen: einen geistlichen Weg, der vom Evangelium her geprägt ist. Es braucht zweitens ein Know-how bzgl. Gruppenarbeit, nicht nur für die Jugendlichen selber, sondern auch für die Priester und Ordensleute. („Wir haben in dieser Richtung während der kommunistischen Zeit noch nichts lernen können!“) Und es braucht drittens Räumlichkeiten für die Jugendlichen.“ Es herrscht der Eindruck, „Gründungsaugenblicke“ einer weiteren Wegetappe auf dem bosnischen Friedensweg zu erleben.

 

Am Nachmittag dieses 08. Dezember besichtigen wir das von der Caritas zu kaufen beabsichtigte Objekt. Ein altes Villenhaus direkt neben der österreichischen Botschaft. Es steht kein Außenraum für sportliche Aktivitäten für die Jugendlichen zur Verfügung. Ob das ein guter Ort sein wird? Uns scheint er fragwürdig.

 

In einem abendlichen Gespräch mit Weihbischof Sudar und vielen Studenten der Gruppe „Emmaus“ wird die große Sehnsucht der Jugendlichen aus Sarajevo nach einem Priester für sie wach und deutlich. Sie brauchen jemanden, der ihnen nahe ist und der sie zugleich weiter führen kann auf ihrem geistlichen Weg. Auch konkrete Alltagssorgen kommen auf den Punkt. Arbeitssuche in einer Stadt, die kaum Arbeit zu bieten hat bei einer Jugendarbeitslosigkeit von über 60 %. Es spitzt sich zu auf die Frage: Viele von uns sind schon gegangen, weil sie hier keine Zukunft sehen! Warum sollen wir bleiben?

 

Der Sommer 2000 nimmt Gestalt an. Bis Ende Januar soll gewartet werden, ob die Caritas das Villenhaus wirklich kauft – dann könnten auf dieser Piste weitere Planungen vorgenommen werden – aber es kommt nie zu dem Kauf. Marco Zubak, ein junger bosnischer Priester, ist von Kardinal Puljic mit den Aufgaben der Jugendseelsorge beauftragt worden. Ihn laden wir zu „Ostern international 2000“ ein. Das Sommercamp – so entscheiden wir –wird stattfinden im Katholischen Schulzentrum (Europa-Schule). Als Workshop-Angebote sehen wir die Renovierung des möglichen Jugendhauses – je nach Stand des Prozesses – Vorbereitung eines Friedenskonzertes für Sarajevo (aufführbar an verschiedenen Orten Bosniens) und weitere Kleinaktionen halten wir in petto. Das Leben der internationalen Sommergruppe in Sarajevo wird auf jeden Fall vernetzt sein mit der Baugruppe „Kindergarten“ in Vidovice.

 

Ein erneuter Besuch beim Kardinal wird möglich. Er strahlt und lacht und wir scherzen. Vom Weg „Jesus beim Wort genommen“ ist er ganz begeistert. (vgl. Chronik, Seite…) Er verspricht uns, den Weg mitzugehen und legt die kleine Scheckkarte für Januar 2000 „Gebt, dann wird auch euch gegeben werden!“ in seinen Kalender. Auch mit allen Konkretionen für das Jugendhaus war er sehr zufrieden. Auch Generalvikar Zovkic war hoch erfreut. Er sprach das Problem der Finanzen an. Ich erwiderte ihm, das sei schon eine Frage, aber ich sei mir sicher, Gott sei auf unserer Seite. Er schmunzelte. Ich erzählte von der Entdeckung, dass das Evangelium lebendig werden will. 7 000 DM hatten für ein bestimmtes Projekt noch gefehlt. Ich hatte mir, weil das im Tagesevangelium gestanden hatte, verboten, mir Sorgen zu machen. Dann in der Messe kam das Wort: „Bittet und Euch wird gegeben werden!“ Ich bat Gott um das fehlende Geld. Am Abend kam eine Frau und erzählte mir, dass sie morgens mit dem Impuls im Herzen wach geworden war, uns noch genau diese Summe Geld zu schenken.

Der Kardinal hatte ganz aufmerksam zugehört und dabei immer wieder in die Hände geklatscht. „Oh wie schön!“ Und dann sagte er: „Ja, das ist wirklich der weiteste Weg auf der Erde, dass das Wort des Evangeliums vom Kopf zum Herz gelangt!“ Dann nahm er wieder die kleine Scheckkarte in die Hand und sagte: „Ja, gebt, dann wird auch euch gegeben werden!“

 

Und dann fuhren wir wieder zurück in Richtung Vidovice. Wir tauschten uns aus mit Schwester Zrinka. Sie strahlte, als sie von all den Entwicklungen hörte. Sie sprang sofort auf den Zug von „Jesus beim Wort genommen“ auf. „Vielleicht geht ja auch eine kleine Gruppe Jugendlicher hier aus Vidovice diesen Weg mit!“

 

Und dann standen wir abends um 18 Uhr an der vor ca. einem Jahr eröffneten Brücke über die Sava. Mir gingen die ersten Begegnungen mit diesem Landstrich durch den Kopf. Fast vier Jahre war es her, dass ich das erste Mal hier gestanden hatte. Alles war dreckig und zerstört und für mich persönlich fremd und unbekannt gewesen. Ich wusste noch gut, welchen Sprung des Glaubens ich damals gemacht hatte. Die „Osteraugen“ von Bischof Hemmerle hatten mich begleitet, die uns einluden, in der Zerstörung schon das Neue und im Tod schon das Leben zu sehen. Was war aus diesem Sprung damals durch viel Leiden und Ringen und Suchen gewachsen. Die nächsten Schritte zeigten sich und dann lagen wieder 1300 Kilometer nächtliche Fahrt vor uns.

 

 

2000

die Jahrtausendwende

Mit knapp 30 – meist drogenabhängigen - Jugendlichen bin ich nach Brasilien auf die Fazenda da Esperanza geflogen. Wir wollen die Jahrtausendwende dort auf der Erstgründung der Fazendas in Guaratingeta – zwischen Rio de Janeiro und Sao Paulo – verbringen. Über 800 sich rehabilitierende Jugendliche aus ganz Brasilien sind angereist, oft waren sie mehrere Tage mit dem Bus unterwegs. Gemeinsames Leben steht auf dem Programm, konkret heißt das: gemeinsames Essen und Beten, gemeinsame Sportaktivitäten und Erfahrungsaustausch. Klaus Rautenberg, der zwei Mal mit uns in Bosnien war und seinen Weg auf der Fazenda gefunden hat, wird in diesen Tagen in Guaratingeta mit Luis und Anderson zum Diakon geweiht.

 

In der Nacht vom 31.12.99 auf den 1.1.2000 halten wir mit allen jungen Leuten der Fazenda Anbetung und feiern dann über die Jahrtausendwende Eucharistie. Es sind bewegende Augenblicke, all die Jugendlichen mit ihren zerbrochenen Lebensträumen und Lebenslinien beten zu sehen. Immer wieder kommt mir das Wort ins Herz: „Ich preise Dich Vater, dass Du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Kleinen und Unmündigen aber offenbart hast!“ Nach der Kommunionausteilung halten wir noch eine lange Stille. Frei Hans, der Gründer der Fazenda, lädt zu persönlichen Worten an alle Jugendlichen ein. Es drängt mich ans Mikro. Ich erzähle ein wenig von Sarajevo und der Not der Jugendlichen dort und ich überbringe die Botschaft der Jugendlichen dieser Stadt, die sich so sehr nach Frieden sehnen. Tiefe Betroffenheit und dann ein tosender Applaus. Ich spüre die Solidarität der Leidenden dieser Welt.

Am ersten Tag des neuen Jahrtausends sitze ich mit Frei Hans, seinem Bruder Paul, Georg Schlütter (Berlin) und Nelson Giovanelli zusammen. Ich hatte Erzbischof Degenhardt auf seine Anfrage hin, ob ich noch länger in Hardehausen bleiben könne, gefragt, ob er mich eine kurze „jugendpastorale Auszeit“ einlegen ließe. Mein erster Gedanke war die Fazenda in Brasilien gewesen, denn aus diesem Charisma war mir 1981 die Kraft und Lebendigkeit des gelebten Wortes des Evangeliums zugewachsen. Aber dann war immer wieder die Frage in mir wach geworden, ob für mich nicht eine Zeit in Sarajevo eher angesagt sei. Ich erinnere mich an einen Traum. Ich trug zwei Kinder – Zwillinge – auf dem Arm, die Namen der beiden begannen beide mit dem Anfangsbuchstaben „B“ (Brasilien und Bosnien) und ich sollte sie taufen. Als ich taufte, war nur noch eines der Kinder da und ich spürte in diesem Kind Bosnien gegenwärtig und wurde mit einer großen Freude im Herzen wach. So saß ich mit der oben genannten Runde zusammen. Frei Hans wollte mich mehr als gern für 3 Monate auf der Fazenda sehen. Aber in mir blieb eine Bremse. Ich konnte einfach kein JA geben und mich ganz darin wieder finden. Ich fühlte mich zu sehr gedrängt – ein für mich nicht leichter Augenblick. Ohne endgültige Entscheidung gingen wir auseinander.

 

Am 11. Januar war der Rückflug angesagt. Ich flog mit 6 Jugendlichen ein paar Tage vor der Hauptgruppe zurück. Hoch über dem Atlantik – die meisten schliefen - fiel meine Entscheidung – freilich unter Tränen. Nach den Weltjugendtagen 2000 würde ich im Herbst für gut 2 Monate nach Sarajevo gehen, um den dortigen Jugendlichen nahe zu sein. Ich hatte mich lange nicht mehr so allein und so radikal in die Verantwortung für das eigene Leben gestellt gesehen, wohl wissend, von vielen nicht verstanden zu werden. Drei Filter schob ich noch vor meine endgültige Entscheidung: die Zustimmung von Erzbischof Degenhardt, die Zustimmung von Kardinal Puljic und den Rat von Chiara Lubich.

Erzbischof Degenhardt schreibt am 18.02.2000: „Lieber Mitbruder, Sie haben mir am 16. Februar einen Brief geschrieben, den ich umgehend beantworten möchte. Nach Rücksprache mit der Personalkonferenz  teile ich Ihnen mein Einverständnis mit, dass Sie drei Monate Zusatzurlaub in Sarajevo verbringen, nicht wie ursprünglich geplant auf einer Fazenda in Brasilien. Ich freue mich, dass Sie mit den Priestern und Jugendlichen der Stadt Sarajevo zusammenleben und während dieser Zeit auch bemüht sind, ein wenig von der kroatischen Sprache zu erlernen. Ich wünsche Ihnen jedenfalls Gottes reichen Segen und viel Freude!“ Auch Kardinal Puljic und Chiara Lubich schicken ermutigende Briefe. Am 21.03.2000 schreibt mir der Kardinal: „Ich freue mich über Ihre Pläne, nach Sarajevo zu kommen und drei Monate mit Jugendlichen und Priestern in dieser Stadt zu verbringen. Das ist eine wichtige Unterstützung im Bereich der Jugendarbeit und für mich persönlich ein Zeichen der großen Gottesvorsehung. In dieser Nachkriegszeit gehen die Jugendlichen einer ungewissen Zukunft entgegen. Darum ist es sehr wichtig, die Jugendlichen zu unterstützen, damit sie durch Gotteswort und unseren Einsatz erkennen, dass man im Glauben, Hoffnung für die Zukunft leben kann. Diese wichtige pastorale Arbeit halte ich in diesem Moment für am dringendsten.“ Bei einem Besuch im April im Haus des Kardinals sagt er: „Helfen wir einander, dass wir das Evangelium essen lernen! Ja, wir müssen das Evangelium nicht nur hören, sondern essen!“, sagt er. Damit ist die Entscheidung gefallen.

 

 

Und noch etwas geschieht am 1. Januar des neuen Jahrtausends. Die schon erwähnte Aktion „Jesus beim Wort genommen“ wird geboren. In einem Rundbrief im Advent 1999 in dem u.a. über den möglichen Bau eines kleinen Hauses („mala kuca“) für die Jugendlichen Sarajevos informiert wird, heißt es: „Aber es geht nicht nur um den Aufbau eines ‚Hauses aus toten Steinen’. Uns liegt ebenso viel an den lebendigen Steinen, die das Haus von innen her tragen und die Stadt und weit darüber hinaus prägen können. So haben wir allen als Weg für das neue Jahrtausend vorgeschlagen, ‚Jesus beim Wort nehmen zu lernen’. Geboren wurde die Idee auf Nachfrage einiger Jugendlicher, die mehrfach am Camp teilgenommen hatten: „Könnt Ihr uns nicht helfen, das Evangelium auch zu Hause / an der Uni / in der Schule so weiter zu leben, wie wir es immer im Camp getan haben? Denn das ist echt schwer, wenn wir nach den Camps immer wieder allein zu Hause sind!“ So kam uns im pädagogischen Team des Jugendhauses die Idee, allen Jugendlichen Monat für Monat – in einer kleinen Scheckkarte einlaminiert – ein Wort des Evangeliums mit auf den Weg zu geben und sie zu ermutigen, dieses Wort ins konkrete Leben zu übersetzen. Mit der „Scheckkarte“ würde jeweils ein kurzer jugendgemäßer Kommentar verschickt. Alle Erfahrungen, die uns junge Leute nach Hardehausen schicken, wollten wir in einem Rundbrief zusammenfassen und allen ‚Mitgängern’ zukommen lassen. So konnte langsam ein großes Netz der Verbundenheit entstehen. Mittlerweile, im Jahr 2008, wird der Kommentar in 13 Sprachen übersetzt und erreicht 15oo junge Leute in 49 Ländern auf allen 5 Kontinenten.

 

 

Im Februar stirbt Schwester Eremberta Eckel 84-jährig im Jugendhaus. In ihren letzen Lebenstagen im Jugendhaus sagt sie immer wieder im Bezug auf den bosnischen Friedensweg: „Ich nehme alles mit in den Himmel!“ Sie ist unsere zweite Fürsprecherin bei Gott! In all den Jahren des Friedensweges hatte ich all die Entwicklungen und Leiden des Weges immer neu Schwester Eremberta erzählt. Sie war auf all den Wegen ganz mitgegangen und hatte mir unzählige Male – auch wenn ich von Wegen in Bosnien anrief – zugesagt: „Ich bete!“ Unser erster Fürsprecher war Heiner Jeibmann, ein Priester der Erzdiözese Paderborn, der Ende des alten Jahrtausends gestorben war. Zeitlebens hatte er täglich bis zu 7 Stunden inhalieren müssen, um mit seiner verklebten Lunge zu überleben. Auch er hatte auf seinem Krankenlager lebendig teilgenommen am Friedensweg und uns sterbend als Motto für den Friedensweg die Worte hinterlassen: „Lieben, das können wir immer!“

 

Der Friedensweg zieht Kreise. So ergibt sich die Gelegenheit, ermutigende Zeugnisse deutscher und bosnischer Jugendlicher, die begonnen haben für den Frieden zu leben, bei einem Priestertag im Erzbistum Paderborn, bei mehreren Dekanatskonferenzen, beim Treffen der Osteuropa-Gruppen des Erzbistums Paderborn, bei einem internationalen Priesterkongress in Rom und bei einer Exerzitien-Veranstaltung für Priester in den Vereinigten Staaten (Chicago) weiterzugeben.

 

Kar- und Osterwoche 2000.  Zum dritten Mal treffen sich junge Leute aus Tschechien, Bosnien, Litauen, Slowenien, Albanien (erstmals) und Deutschland, um im Rahmen von „Ostern international“ die Kar- und Ostertage gemeinsam zu feiern und das Sommercamp 2000 in Sarajevo in Blick zu nehmen.

Sanja und Renata – beide aus Sarajevo – erzählen in der Osternacht ihre Geschichte. Sie erzählen, im Krieg keine Kindheit gehabt zu haben, sie erzählen von der Angst in den Jahren ihrer Kindheit und von dem Leid, einen Bruder durch Minen verloren zu haben und von der Not und der Armut, in der sie jetzt nach dem Krieg leben müssen. Mit 400 DM muss eine ganze Familie durchkommen. „Zum ersten Mal haben wir nach all den Jahren darüber reden können. Das war ganz, ganz schwer, aber wir sind froh, all das mit Euch teilen zu können!“

 

Am Osterdienstag bringe ich albanische Jugendliche zurück zum Frankfurter Flughafen. Zum Abschied sagt mir Oli: „Meinolf, weißt Du, was für mich Ostern bedeutet hat? Als wir in der Osternacht in neun verschiedenen Sprachen für die Länder dieser Sprachen gebetet haben, dass die Ostererfahrung „Jesus lebt“ dort ankommen möge, da hab ich fast geweint. Ich sah auf einmal, wie es der gleiche Jesus ist, den wir hier unter uns erlebt haben und der in all den anderen Ländern genauso leben will. Diesen Weg will ich weitergehen – auch in Albanien! Lass uns darin Tag für Tag, nein mehr noch, Augenblick für Augenblick verbunden sein!“ Dann mussten wir sie am Zoll wieder gehen lassen in das Armenhaus Europas. Mir kamen Tränen. Aber ich spürte, es bleibt etwas, was uns nicht mehr auseinander reißen kann. Es ist die Verbundenheit in Jesu Wort. Denn dieses Wort stiftet Familie. Und auf Mailbox hörte ich von Judith, einer Schülerin: „Die verschiedenen Nationalitäten spielten keine Rolle mehr. Ich glaube, dieses Gefühl empfindet man sonst fast überhaupt nicht mehr. Ich habe auf einmal gemerkt, da sind Leute vor dir und hinter dir und um dich herum, die alle an diesen Gott glauben und alle Sein Wort leben wollen. Das war eine unglaubliche Freude. Dass wir alle diese Freude gespürt haben, war eine wichtige Erfahrung für mich, die ich gern bereit bin, weiterzugeben. Ich bin fest entschlossen, das Evangelium zu leben.“

 

Bei einem nachösterlichen erneuten Besuch in Sarajevo wird die Idee des Jugendhauses in Sarajevo weiter sondiert. Das Villenhaus neben der österreichischen Botschaft scheint sich als Jugendhaus wenig zu eignen. Ein Haus der Jesuiten im Stadtteil Grbavica steht zum Verkauf an. Bei mehreren Besuchen mit Kardinal Puljic und Pater Marco von den Jesuiten vor Ort, zeigt sich, dass dieses Haus – innen sehr verbaut – auch nicht optimal zu sein scheint. Die Suche geht weiter.

 

Im Cafe International des 94. Deutschen Katholikentages in Hamburg wird am 02. Juni 2000 der Friedensweg „Hände für den Frieden -  dem Frieden Hände geben“ vorgestellt, wie auch am 25.07. 2000 auf der Expo in Hannover im Kirchenpavillon. Vielfältigste Begegnungen ergeben sich. Wir eröffnen die Homepage www.sarajevo-vision.de auf der während der Sommercamps immer Tagebucheintragungen vorgenommen werden.

 

Bosnischer Sommer 2000. Am 03. Juli bricht die Gruppe „Kindergarten Vidovice“ auf, am 06. Juli die Gruppe „Jugendbegegnung in Sarajevo“. Beide Gruppen sind durch die täglichen Mottos vernetzt und begegnen einander beim Friedenskonzert in Vidovice am 19. Juli. In Sarajevo sind wir in der Europa-Schule untergebracht. Mit von der Partie sind dieses Jahr erneut 4 Tschechinnen und Tschechen, zwei brasilianische Schwestern von der Fazenda, Schwester Delma Alvez des Souza und Schwester Catarina Sirlei Maciel de Oliveira, und ein junger Koreaner, Su ung Won. Dieses Jahr steht u.a. ein reichhaltiges Bildungs-Programm an. Mit folgenden Themen setzen wir uns auseinander. „Wir werden immer weniger – die Situation der katholischen Kirche vor Ort“ / „Als Moslem in Sarajevo“ – Gespräch mit jungen Muslimen aus der Stadt /  Gespräch mit bosnischen Serben und Besuch der orthodoxen Kirche / „Als Jude in Sarajevo“ – Gespräch in der Synagoge / Visions-Fragmente: Gespräch mit der Gruppe Abraham / Besuch bei Kardinal Puljic / Besuch in der Deutschen Botschaft und Besuch bei den S-FOR-Truppen in Rajlovac.  Nebenher entstehen Holz-Plastiken, die wir auf dem Schulhof der Europa-Schule zurücklassen. Und erstmalig geben wir ein Friedenskonzert bei den deutschen und französischen S-FOR-Soldaten in Rajlovac. Oberstleutnant Bode, Stabskommandeur des Heeres, schreibt später aus Rajlovac: „Der Abend war für alle Seiten ein toller Erfolg, selbst eine Schwester aus Brasilien konnte ihr Tanzbein nicht still halten und hat einen Tanz riskiert.“

Was uns alle über alles bewegt ist das Thema „Frieden“ – Wie geht Frieden an diesem Ort Sarajevo unter so schwierigen Bedingungen. In einem Rundbrief – nach dem Camp versendet – ist zu lesen: „Von den ersten Augenblicken in Sarajevo an war klar: Für den wahren Frieden gilt es sich zu verschenken und zu leiden! ‚Instant-Frieden’ – ein paar leere Versprechungen mit heißem Wasser übergossen und schönen Worten à la ‚nema problema’ garniert, trägt nicht. Auch wenn die Waffen schon seit 5 Jahren schweigen – es ist kein Friede in Sarajevo. Er ist auch nicht einfach produzierbar. Er will erbetet, erlitten und geboren werden. Friede wird, wenn wir Menschen Gott unter uns Raum gewähren. Immer neu! Deutlich wurde uns das bei einer zweisprachigen Sonntagsmesse. Zu zweit zelebrierten Ivo Tomasevic und ich die Messe. Zur Lesung setzten wir uns. Der Stuhl zwischen uns blieb frei. Ich verstand: Den Platz zwischen uns müssen wir für einen Anderen frei halten und frei räumen. Aber wie mühsam ist das, Tag für Tag neu alles andere wegzuräumen an Vorurteilen und Verhärtungen, an Ausgrenzungen und Mauern, was diesen Platz zwischen uns besetzt hält. Solche Arbeit ist Friedens-Arbeit, nicht für den ‚Instant-Frieden’, sondern für den Frieden, den diese Welt nicht geben kann. Freilich bringt sich dieser Friede ganz unterschiedlich zur Gestalt. Immer aber hat er mit der Qualität unseres Herzens zu tun. Ihm sind wir im Camp begegnet. Ihn haben wir „gesehen“.

 

„Gesehen“ habe ich ihn in den Tränen eines jungen Mannes, der all seine Kommunikations-Bereitschaft gegeben hatte, um in der bosnisch-deutschen Band einen gemeinsamen Weg zu finden. Es schien nur schwer möglich. Er gab trotzdem nicht auf, sondern lebte mit großer Überzeugungskraft, immer wieder den ersten Schritt auf den anderen zu zu tun,

„Gesehen“ habe ich ihn beim Treffen mit der kleinen christlichen Gemeinde in Gorazde. Ein Mädchen reagierte: „Ich geh’ eigentlich fast nie zur Kirche. Aber in dieser Messe hab ich eine solche Dichte gespürt wie selten. Diese Atmosphäre unter uns war mehr als nur diese Atmosphäre.“ Ein alter Mann hatte nach der Messe noch zwei Stunden bei uns gesessen. Seine Frau kam, um ihn zu holen. Er stand auf und ging bis zur Tür. Er drehte um und kam zurück. Drei Mal wiederholte sich diese Szene. Drei Mal kam er zurück. Er konnte sich nicht lösen von dem Klima unter uns. Als wir fuhren, weinte er.

 

Vor unserer Abfahrt aus Deutschland hatten wir Papst Johannes Paul II. von unserem Weg nach Sarajevo geschrieben. 1995 hatte er den Jugendlichen aus Sarajevo vom Jugendtreffen in Loretto aus zugerufen: „Ihr seid nicht allein, wir sind mit Euch!“ Dieses Versprechen wollten wir wieder neu einlösen. Als wir heimkehrten fanden wir seinen Antwortbrief. Darin heißt es: Der Papst wünscht „Ihnen allen viel Kraft und Freude aus dem Glauben, damit Sie den Weg durch das Heilige Jahr 2000 mutig und frohen Herzens weitergehen können. Eine wichtige Etappe setzen Sie mit Ihrer Aktion ‚Hand in Hand für Sarajevo’. Der Herr sei Ihnen allen ein treuer Wegbegleiter.“

 

Und dann – nach den Weltjugendtagen in Rom – 2 Monate in Sarajevo. In diesen Wochen entsteht ein sehr persönlich gehaltenes Tagebuch „Wir haben einfach angefangen!“. Auf den ersten Seiten ist rückblickend auf die Vigilfeier in Rom auf dem Uni-Campus von Tor Vergata zu lesen: „Und dann schenkte der Papst allen das Markusevangelium und eine kleine Öllampe. Ich verstand. Mit dem Evangelium gab er einem jeden von uns die Worte Jesu – vor 2000 Jahren genauso lebendig wie heute – mit, damit wir sie essen und leben. Er wies uns damit den Weg, Licht für diese Welt zu sein – dort wo wir leben.

Ein paar Augenblicke später brannten all diese Kerzen. Ein riesiges Lichtermeer von über 2 Millionen Flammen. Ein bewegender Anblick. Bis zum Horizont nur kleine Flammen, mitten im Dunkel der Nacht. Ein Chor und ein Orchester präsentierten ein Musikstück und sangen: Il paradiso. Und dann brach ein herrlich inszeniertes Feuerwerk los. Wir standen – kurz zuvor ganz persönlich getroffen von den Worten des Papstes – ganz bewegt und angerührt unter diesem Schauspiel. Ich schaute in die Gesichter der Jugendlichen, für die ich übersetzt hatte. Bei einigen sah ich Tränen der Rührung. Ich hatte den Eindruck: In diesen Augenblicken geschieht etwas, was ich nur schwer beschreiben kann. Wir werden verwandelt. Die vielen einzelnen – getroffen von der Liebe des Papstes und hineingeführt in die ganz persönliche Liebe zu Jesu zu einem jeden von ihnen – werden zu einem Volk. Mir war, als würde ich den Leib Christi sehen – nicht eine Masse von Jugendlichen, sondern einen großen Leib. Wir würden anders aus diesem Geschehen hervorgehen, als wir hineingegangen sind.

 

So ging ich während dieser Nacht noch lange durch all die vielen Jugendlichen. Ein Strahlen lag auf allem Es war, als würden sich hier Wirklichkeiten durchmengen. Es war nicht mehr nur die faktisch greifbare Wirklichkeit zu fassen – vielmehr hatte ich den Eindruck „durchblicken“ und „durchschauen“ zu können in die Wirklichkeit, die „hinter“ den Dingen liegt und die mir in diesen Augenblicken viel wirklicher erschien als all das Fassbare und Greifbare, als der Schweiß und die Mühe der vergangenen Tage unter der Hitze. Vielleicht war und ist es das, was Jesus mit dem Reich Gottes angekündigt hat. Wir können nicht sagen „hier ist es“ oder „schau mal dort“. Aber es ist auf einmal da – zwischen allen. Du spürst es und du wirst hineinverwandelt.

Wie oft hatte ich mich gefragt, was mein ‚Auftrag’ in Sarajevo sei. Immer wieder hatte ich mir gesagt: Mach dir keine Sorgen, es wird sich zeigen. Hier in Rom war es auf einmal deutlich. Es kam nur darauf an, diese konkrete Liebe des Papstes weiterzubringen und die Jugendlichen auf den Pfaden des Evangeliums zu Jesus zu führen. Mir blieb der Ruf Johannes Pauls II.: ‚Habt keine Angst, Jesus den Herrn über euer Leben sein zu lassen!’ Nur diese Botschaft wollte ich nach Sarajevo bringen.“

 

live in Sarajevo

Von September bis November verbrachte ich gut 2 Monate, mit einer 10-tägigen Unterbrechung für die Hochzeit von Tobias und Elke Kroll, die sich auf dem Friedensweg kennen gelernt hatten, in Sarajevo.

Hier einige Eckdaten: Die erste Zeit wohnte ich im Priesterseminar, die letzten knapp 6 Wochen im Kellerraum eines Hochhauses, der über Jahre der Pfarrei Hl. Lukas als Kirche gedient hatte, anfangs mit Manfred von der Fazenda, später dann allein. Die Wohnung des Pfarrers, Marijan Marijanovic, lag zwei Häuserblocks weiter. Er lebte dort mit seinem Vikar. Die Wohnung war zu klein für uns drei. So lebte ich in der „Bunkerkirche“ oder „Katakombenkirche“, wie sie scherzhaft genannt wurde und war für die Jugendlichen einfach da. Ziel dieser Zeit war es, ihnen und ihren Lebensverhältnissen näher zu kommen.

Ich machte einen Sprachkurs und gab am Priesterseminar Deutschunterricht. Ich besuchte Familien, die ich kennen gelernt hatte und kümmerte mich sehr um Goran, der in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie eingeliefert worden war. Während des Krieges war er vier Jahre lang mit seiner Mutter in Langenberg. Ich besuchte Priester und lernte ihre Lebensverhältnisse kennen. Ich war immer wieder in der katholischen Europa-Schule im Stadt-Zentrum und in Stup. Ich sprach viel mit Tomo Mlakic, einem jungen Priester und lernte viel durch ihn über die Kirche in Bosnien kennen. Ich fuhr mit Jugendlichen in die Berge und besuchte sie zu Hause. Wir machten mehrfach eine Wallfahrt nach Medjugorje und verbrachten eine Woche lang mit Bewohnern der Fazenda von Berlin, die zu Besuch gekommen waren. Es waren übervolle Monate in denen ich in die Mentalität des Balkans eintauchen konnte. Der Rundbrief, nach der Rückkehr verschickt, lässt diese Zeit vor allem in ihrer inneren Bedeutsamkeit – an einigen Fakten aufgehängt – aufscheinen.

„Wenn ich auf die Wochen in Sarajevo zurückblicke, habe ich den Eindruck, dass Sein Reich dort in der Stadt gewachsen ist. Ich habe in den letzten Wochen dort im Stadtteil Novi Grad gelebt, direkt an der berühmten Scharfschützenallee, wo so viele Menschen ihr Leben lassen mussten. Geschlafen habe ich dort in einer unterirdischen Kirche. Wir haben sie liebevoll Katakombenkirche genannt. Dort konnte ich vielen Jugendlichen nahe sein. Immer wieder kamen sie, um zusammen zu sein.

Morgens haben wir ins Tagesevangelium geschaut und ein kleines Motto für den Tag herausgesucht. Einzelne Jugendliche kamen. Andere baten uns, ihnen das Motto per Telefon mitzuteilen, damit sie es auch leben konnten. (u.a. Emica, eine 16-jährige Schülerin und Dragana, eine 25-jährige Mitarbeiterin bei der OSCE – beide haben später ein ‚Freiwilliges Soziales Jahr’ im Jugendhaus Hardehausen absolviert!) Wenn wir uns dann trafen – in der Kirche oder in der Stadt, haben wir uns Erfahrungen mit dem Motto erzählt.

An einem Tag hatten wir das Motto: „Uviek – odmah!“ Immer –sofort (lieben)! Ich war an diesem Tag morgens im katholischen Schulzentrum von Stup. Dort gehen zwei junge Lehrerinnen diesen Weg mit. Die Schulpsychologin kam und bat mich, ein wenig zu erzählen. Ihre Kolleginnen seien so anders und so froh geworden. Sie war ganz fragend. Ich erzählte ein wenig. Dann musste ich gehen. Später hörte ich, wie die beiden Lehrerinnen das Gespräch mit ihr an dem Tag noch weiter geführt hatten. Uviek odmah! Ich fuhr in das andere katholische Schulzentrum im Herzen der Stadt. Zwei Schülerinnen kamen, als sie mich in ihrer Schule sahen, sofort angelaufen und riefen nur: „Uviek odmah!“ Und dann sah ich, wie sie ins Gespräch vertieft mit den anderen weiter machten. Ich spürte ihre Freude!

Der Pfarrer der Gemeinde hatte sich das Motto auf einen Zettel geschrieben und ans Telefon gelegt. Er rief mich über Handy an und erzählte, wie er einige Flüchtlingsheimkehrer wirklich geliebt hatte. Ich ging weiter. Dragana, die junge Dolmetscherin aus der OSCE, die ich auf der Zwischenfahrt nach Deutschland mitgenommen hatte, da sie während des Krieges einige Jahre in Berlin gelebt hatte, war ebenfalls eingestiegen, das Wort des Evangeliums zu leben. Tag für Tag fragte sie nach dem Motto. Ihre Dolmetscherkolleginnen waren neugierig geworden. Sie hatten sie gefragt, was sie für eine Entdeckung gemacht habe. Sie sei ganz anders geworden. Sie hatte ihnen offen von den Evangelien-Worten erzählt, die Leben werden wollen. Sie rief mich an und bat mich um einen kurzen Besuch. Ich kam in das Büro und spürte sofort dieses neue Leben zwischen den jungen Leuten. Und dann erzählten sie mir, wie sie in dieser schwierigen Zeit der Wahlen das „uviek odmah!“ zu leben versuchten.

Als ich dem Kardinal ein wenig davon erzählte, strahlte er nur: „Welche Freude, das Evangelium wandert aus den Schränken in die Herzen! Es wird Leben! Danke, danke! – Wann kommst Du wieder?“

 

An einem der letzten Abende hatte ich nochmals viele Jugendliche in die ärmliche Bunkerkirche eingeladen. Ich erzählte ihnen, wie Jesus seine Jünger Abend für Abend zusammen gerufen hatte und wie er sie eingeladen hatte, zu erzählen. Daraus war die Familie der ersten Christen entstanden. In unserer Mitte stand die Ölkerze, die ich von den Weltjugendtagen mitgebracht hatte. Dann warfen wir einen Wollknäuel herum. Jeder, der wollte, konnte erzählen. Und das Wunder geschah. Diese jungen Menschen, die sonst kaum von sich, ihren Sorgen und ihrem Leben erzählten, begannen zu erzählen. In den Augen vieler sehe ich Tränen. Freude und Schmerz liegen ganz nahe beieinander. Es war wirklich eine Sternstunde. In dieser Nacht ist etwas geschehen. Tief unten – unter Sarajevo.

 

Am nächsten Tag kam Mladen, ein junger Musikstudent, den ich im Sommer kennen gelernt hatte. Er wirkte hart und abweisend. Er kam und klopfte an die „Katakombe“. Eine Schelle gab es nicht. Ich bat ihn hinein. Er war zunächst sehr unsicher, obwohl er morgens oft zum ‚Blick ins Evangelium’  gekommen war. Ich begann mit ihm zu scherzen und zu lachen. Dann sagte er: ‚Ich bin eigentlich nur gekommen, um dir zu sagen, was gestern Abend mit mir geschehen ist. Als wir hier unten in der Kälte der Katakombe saßen und als wir begannen zu erzählen, hatte ich den Eindruck, ich kann Jesus sehen und ihn anfassen. So dicht war das Klima unter uns. Ich war ganz gerührt. Ich, der ich doch so verschlossen und hart geworden bin!“

Und dann saßen wir noch 4 Stunden bei einem heißen Tee… Kurze Zeit später klopfte es wieder. Nevena. Auch sie ist noch nicht getauft. Auch sie war von der vorabendlichen Austauschrunde noch ganz erfüllt.  Auch sie begann ihre ganze Lebenslinie zu erzählen – mit all dem Schweren, beispielsweise ein Jahr lang nicht ihr Haus verlassen zu haben. Zwei Abende später kam sie nochmals mit ihrem Freund. Ihr müsst Euch dringend noch kennen lernen, denn er will auch dieses neue Leben teilen!

Ich hatte den Eindruck: Ich sehe dieses Königreich Jesu in den Augen all dieser Jugendlichen, die einfach nur leuchten in der so schwierigen Situation von Sarajevo. Ich musste zurückdenken an das Wort, was von Anfang an über unserem bosnischen Friedensweg gestanden hatte: „Mach dir keine Sorgen, kümmere dich um mein Reich. Alles andere wirst du dazu bekommen!“ Ich hatte wirklich versucht, mich nur – mit dem Evangelium in der Hand – um Sein Reich zu sorgen.

Und es klopfte noch einmal an der vergitterten Tür der Katakombenkirche. Dragana kam mit einer Freundin. Sie luden mich noch auf einen Kaffee ein. „Das ist so in Sarajevo!’ Und nochmals saß ich einige Stunden mit ihnen zusammen. Auch ihr ganzes Leben mit all der Suche kam heraus. Sie sagte mir: „Ich habe Gott auch in all den schweren Zeiten meines Lebens, vor allem während der Flucht und als ich dem ganzen Schmutz der Sünde dieser Welt ausgesetzt war, nah gespürt. Oft habe ich geweint und gebetet. Aber ER war immer bei mir und hat mich beschützt. Ich bin dann nach Sarajevo zurückgegangen. Ich hatte so viele Fragen in mir. Ich wollte Gott näher kennen lernen. Aber mit der katholischen Kirche hatte ich schlechte Erfahrungen gemacht. Ich fand einfach keine richtige Antwort. Jetzt spüre ich durch das Leben, das du uns eröffnet hast, wie sich ganz viele Fragen beantworten. Ich entdecke die Kraft des Evangeliums. Und dann erzählte sie erneut konkrete Erfahrungen der vergangenen Tage.  – Ich hatte den Eindruck, auch in diesem jungen Menschen hat etwas begonnen, was Gott wachsen lassen wird. Ich ‚sah“, dass Gott Pläne hat mit Sarajevo. Denn diese junge Frau ist zurückgegangen in die schwierige Situation ihrer Stadt, obwohl sie im Ausland viele Chancen gehabt hätte. Nun leben wir und warten, was geschehen und sich zeigen wird.“

 

Ich höre noch die Worte eines jungen Menschen – kurz vor meinem Aufbruch: „Meinolf, Du kannst uns jetzt nicht allein zurücklassen. Denn es hat etwas begonnen, was weitergehen muss. Wir haben einen Weg kennen gelernt, nach dem ich mich immer gesehnt habe. Du hast einen ganz tiefen Punkt bei vielen von uns getroffen!“ Diese Worte werden mich weiter begleiten. Sie arbeiten und lassen mich fragen, immer neu!

 

Am Ende des Jahres 2000 schreibt Chiara Lubich in einem Brief: „Das Leiden hat dieses (bosnische) Volk auf das Licht des Evangeliums vorbereitet. Wenn die Kontakte fortbestehen, dann kann noch so viel Leben geboren werden!“ Für den bosnischen Weg des Jugendhauses Hardehausen geht mit dem Jahr 2000 – für mich in Brasilien begonnen – das reichhaltigste und intensivste Jahr zu Ende. Gespannt blicken wir nach vorn!

 

 

 

2001

Das Sommercamp 2001 fand statt mit TeilnehmerInnen aus Bosnien und Tschechien, aus Deutschland und Belgien. Ort des Camps, an dem über 50 junge Leute teilnahmen, war der Kindergarten von Stup. Kurzbesuche machten Polen, Slowenen und Schweizer bei uns im Camp. Von diesem Basislager aus koordinierten wir die Baustellen und Tänze. Im Juli 2001 heißt es in einem reflektierenden Rundbrief: „Um Mitternacht wurde es still im Bulli und im Bus. Ich liebe diese Zeit, in der ich immer den Eindruck habe, meine Seele ist ganz nah bei Gott. Ich spürte eine große Dankbarkeit in meinem Herzen im Rückblick auf die vergangenen Wochen. Und ich sah nochmals all das, was gewachsen war, auf den vielen Straßenkilometern, die wir in den Tagen gemacht hatten, nach Banja Luka und Siroki Briek, nach Mostar und Vidovice und im gemeinsamen Leben des Camps. Ich sah nochmals die Workshopleiter vor meinem inneren Auge: Ulli, der als Berliner Künstler innerhalb von 4 Tagen für Dietmar eingesprungen war und der prächtig in die Gruppe gefunden hatte, Alexandra, die alles für die Musik gegeben hatte, Annedore, mit den künstlerischen Foto-Ideen, Nils und Arthur, die die Wohnungsrenovierungen  super in den Griff bekommen hatten, Steffi Günnewich, die den Tanz-Workshop mit viel Elan und Freude durchgetragen hatte, Dragana und Nikolina, die immer für uns übersetzt hatten, Philipp und David, die als 16- und 17-Jährige die gesamte Crew als Küchenteam mit Bernhard Nake während der ganzen Zeit optimal versorgt hatten, Inga und Tomislava und Bernhard, die den ganzen Orga-Kram für uns gestemmt hatten… Und ich sah nochmals den Augenblick, als Kardinal Puljic zu uns in den Kindergarten gekommen war. Wir hatten ein kurzes Programm zusammengestellt. Nils erzählte, wie er auf dem bosnischen Friedensweg in den vergangenen drei Jahren seine Berufung zum Priestertum entdeckt hatte; Annedore erzählte, wie in ihr eine Liebe zu diesem Land entstanden sei, dass sie sich nun entschieden habe, für ein halbes Jahr zu kommen. Liba aus Tschechien erzählte, wie ihr diese gemeinsamen Camps geholfen hatten, am gelebten Evangelium dran zu bleiben, Matthias erzählte, wie er eine neue Tuchfühlung zum Glauben gefunden hätte und Dragana berichtete, wie dieser Weg des Evangeliums, den sie schon vorher entdeckt hatte, in dieser Gruppe für sie lebendig zu erfahren sei… Kardinal Puljic hatte neben mir gesessen und nur gesagt: „Ich spüre die Liebe Gottes hier unter euch. Lebt weiter aus ihr! Und zu mir gewandt sagte er. Macht weiter so, auf diesen Wegen!“

 

Auch in Vidovice wurde von der Vidovice-Gruppe sehr zur Freude der Dorfbewohner am Kindergarten weitergebaut. Die Freude konnten wir beim 5. Internationalen Friedens-konzert vor Ort live miterleben.

 

Post aus Sarajevo

Während des Sommercamps haben wir eine kleine Wohnung renoviert, die Ljubica, einem Mädchen aus dem Kinderheim Egypat gehört. Im Krieg hat sie ihre Eltern verloren. Wenn sie volljährig sein wird, wird sie in diese Wohnung ziehen. So haben wir die Wohnung auf unbestimmte Zeit gemietet. Annedore Wilmes und Stefan Kube dient sie von Herbst 2001 bis Sommer 2002 als Wohnung. Stefan  ist Student an der Katholischen Hochschule in Sarajevo, Annedore arbeitet mit Kindern im Kindergarten von Stup. Stefan schreibt um Weihnachten 2001: „Ob ich Ende Januar ebenfalls Prüfungen machen werde, ist noch nicht ganz sicher, da ich noch immer am Erlernen der kroatischen Sprache bin. Zwar besuche ich mit Annedore unseren zweiten Sprachkurs an der Soros-Sprachschule und habe auch noch Nachhilfe bei einem bosnischen Mädchen, doch wenn mir Fragen gestellt werden, antworte ich noch sehr häufig: „Ne razumjem. Molim?“ („Ich verstehe nicht, wie bitte?) – Annedore schreibt: „Zwischen 60 – 70 muslimische, serbisch-orthodoxe und katholische Kinder besuchen den Kindergarten ‚Heilige Familie’, in dem ich arbeite. Je mehr Zeit ich mit ihnen verbringe und je mehr ich über sie erfahre, umso mehr wachsen sie mir ans Herz.“

 

Anfang Oktober 2001 macht sich das pädagogische Team des Jugendhauses auf den Weg nach Sarajevo. Viele Begegnungen stehen auf der Tagesordnung. Für die meisten des Teams ist es der erste Kontakt mit dem Land, in dem wir mittlerweile seit 6 Jahren Friedensarbeit leisten. Schwester Daniele schreibt rückblickend: „Ich möchte aus all dem vielen nur das heraus greifen, was mich am meisten bewegt hat und bis heute tief in mir sitzt: Die Begegnung und die Gespräche mit den Jugendlichen, die ich z.T. schon durch unsere Maßnahmen „Ostern international im Jugendhaus Hardehausen“ kannte. Ich habe sie in Sarajevo mit ganz anderen Augen gesehen. Ich habe ihre große Sehnsucht gespürt, mit dem Wort Gottes zu leben, eine große Freude mit uns zusammen zu sein, eine große Hoffnung, Wege zueinander zu finden. Ich habe aber auch ihre Angst und Perspektivlosigkeit gespürt. (…) Die Abende in der kleinen Bunkerkirche und in der Wohnung bei Annedore und Stefan werden für mich unvergesslich bleiben.

 

Auf der Rückfahrt von Sarajevo nach Hardehausen, die uns über Vidovice führt, wo wir auch nochmals herzlich von Pfarrer Jakov und Schwester Zrinka empfangen werden, nehmen wir Dragana Lasica mit. Sie wird für ein gutes halbes Jahr als erste FSJlerin ins Jugendhaus Hardehausen kommen, an Schulendtagen und Jugendbauernhofkursen teilnehmen, Wochen-Enden mitgestalten…

In den jährlich erscheinenden Akzenten schreibt sie im Dezember 2001:  „Mein ‚Dasein’ in Hardehausen hat viel mit dem Weg ‚Jesus beim Wort genommen’ zu tun. Ich habe in Sarajevo Meinolf kennen gelernt und erfuhr von ihm über diesen Weg. Dadurch war mein Kommen initiiert, aber der eigentliche Grund liegt eher in einer philosophischen Frage: Warum bin ich? Und warum bin ich hier auf diesem Planeten? Die Frage wurde immer stärker und ich habe mich auf die Suche nach einer Antwort gemacht.“ Ich entschloss mich die Bibel genauer zu lesen, weil ich herausbekommen wollte, wer Gott eigentlich genauer ist. Ich kann mich noch erinnern an die ersten Erfahrungen mit dem Wort, die mich damals oft sprachlos gemacht haben. Mit der Zeit verstand ich mehr: Das, was da steht, sind nicht leere Worte. Aber es blieb die Frage: Wo kann ich das leben? Was ich von Menschen, die sich katholisch nannten, erlebt hatte, bewirkte, dass für mich die katholische Kirche kein Ort für eine Antwort war. „Dann habe ich Meinolf kennen gelernt und von dem eben genannten Weg erfahren.

Aber er war ja auch katholisch, sogar ein katholischer Priester. Wir haben unsere Erfahrungen ausgetauscht und die schienen mir etwas Echtes zu sein. Aber ich konnte nicht allem, was Menschen mir erzählen, glauben!“ Ich wollte mich noch mehr damit befassen. „Und dann kam eine Sache nach der anderen. Einigen jungen Leuten aus meiner Stadt schien dieser Weg auch echt zu sein und sie wollten auf diesem Weg weiter gehen. So haben wir uns getroffen, die Bibel gemeinsam gelesen und Erfahrungen damit gemacht.“ Einige Erfahrungen haben uns sehr gepackt, darüber schreibe ich ein anderes Mal! „Die Leute kamen regelmäßig zu den Treffen, weil sie für sich etwas Echtes gefunden hatten! Jetzt ist ein Jahr vergangen und sie kommen immer noch.“ Als ich dann von der FSJ-Stelle in Hardehausen hörte, schien mir der Aufenthalt bei Euch eine Möglichkeit, das Evangelium zu leben, die katholische Kirche besser kennen zu lernen und einige Fragen für mich zu beantworten… Jetzt bin ich hier!

 

2002

Monate später, nachdem Annedore aus Sarajevo heimgekehrt ist, berichtet sie mit Dragana eindrucksvoll in einer sonntäglichen Matinée-Veranstaltung – im Rahmen der Veranstaltungsreihe „tell me your story“ - über ihre persönlichen Erfahrungen im Land der jeweils anderen. Auch Ostern international findet erneut statt, dieses Mal mit jungen Leuten aus Bosnien, Tschechien und Polen, aus Albanien und Deutschland. Ein in den Tagen entwickelter Auferstehungstanz, der bei verschleiert trauernden Frauen ansetzte und in lebendigen Osterrhythmen endete, blieb uns nach lange im Gedächtnis.

 

Vom 12. – 29. August 2002 findet das 7. bosnische Sommercamp in Sarajevo wiederum im Kindergarten von Stup statt. Es ist mittlerweile das dritte in Sarajevo. Die Teilnehmerliste zeigt erneut 43 junge Leute aus Belgien, Bosnien, Tschechien, Albanien und Deutschland. Gearbeitet wird in einem Kunst-Workshop, einer Bibel-Performance-Gruppe – die Mädchen aus Sarajevo haben erstaunliche Talente entwickelt im Visualisieren von Bibelszenen, ihr Thema: Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde! Das neue Sarajevo! – und auf einigen Baustellen. Die größte Baustelle ist das kleine Haus von Olgica Pavlovic, der Schwester von Dragana, die im Krieg schwer psychisch erkrankt ist. In Schulendtagen und bei weiteren Sponsoring-Aktionen sammeln wir das benötigte Geld. Im Frühjahr 2002 fahre ich mit Dragana ihre Schwester in Nordbosnien besuchen. Die beiden Kinder der Familie wachsen mir sehr ans Herz. Die Not dieser Familie klopft erneut an die Tür unserer Herzen. Die Vidovice-Gruppe stellt den Kindergarten im Baucamp vom 31.08. – 05.09. dieses Jahr fast fertig. Er wird im nächsten Jahr eingeweiht.

Und wie in all den Jahren, die Früchte bleiben sich ähnlich. Eine junge Frau schreibt mir nach dem Camp: „Dieses (unsichtbare und doch zugleich erlebbare) Reich haben wir gesehen. Wir haben es gesehen im Strahlen der Augen vieler. Ich hatte den Sinn für mein Leben verloren. Zu schwer waren die Enttäuschungen der vergangenen Jahre in meinem Leben. Aber ich war auf der Suche. Ich fahre jetzt froh nach Hause, denn ich habe wieder neu gesehen, wofür es sich zu leben lohnt. Ein solches Geschenk hatte ich nicht erwartet. Schickt mir bitte auch per sms das tägliche Motto.“

 

GEN ROSSO, die internationale performance-group aus Loppiano bei Florenz, ist auf unseren Friedensweg aufmerksam geworden. Sie hatten sich entschieden, im Rahmen ihrer Deutschland-Tournee ihr Musical „streetlight“ am 14. Juni 2002  in Hardehausen aufzuführen. Das Musical erzählt die Geschichte eines Jungen, der sich in der downtown von Chicago für das Miteinander zweier verfeindeter Straßen-Gangs einsetzt und dabei ermordet worden ist. Sein Leben ist Ermutigung, das eigene Leben einzusetzen für die große Idee des Friedens. Für die Performance gestalten wir ein kleines Heft und entscheiden, mit dem überschüssigen Geld dieses Jahr Familie Pavlovic zu unterstützen. Wir verleben im Jugendhaus 5 sehr prägende Tage mit den Künstlern von Gen Rosso. Mit einer Schulendtagsklasse aus Soest bereiten wir der Gruppe einen riesigen Empfang. Am Abend des Konzertes rufen wir kurz Dragana Lasica, die ihr FSJ bereits beendet hatte, in Sarajevo an. In diesem Netz der gelebten Verbundenheit stehend erleben 2500 Gäste eine gelungene Performance. Parallel läuft erneut eine große Möbel-Sammelaktion für die genannte Familie und am 08.08.2002 geht erneut ein großer Transporter auf den Weg nach Sarajevo. Erinnerungen an die ersten Schritte auf dem Friedensweg werden wach.

 

 

Zum zweiten Mal verbringe ich  - abgesprochen mit Erzbischof Degenhardt - einen guten Monat in Sarajevo, um gemeinsam mit Marco Zubak die jugendpastoralen Aktivitäten in der Stadt voran zu bringen. Mich drängt zu dem die Frage, ob es dran sein kann, für einige Jahre in diese Stadt zu gehen, um den Jugendlichen nahe zu sein. So ist in einem Brief vom 28.04.2002 an Erzbischof Degenhardt zu lesen: „Ich möchte Ihnen sagen, dass ich in meinem Herzen das Drängen spüre, für einige Jahre in diese Stadt zu gehen, um mit den Jugendlichen weiter nach ihren Wegen vor Ort zu suchen. Ich habe die Ahnung, dass das dort aufgebrochene Leben ein Haus braucht. Ich würde gern dafür leben, dass die jungen Leute dieser Stadt einen Ort finden, an dem sie immer ‚Jesus in der Mitte von Menschen’ finden können. So geht mir auch die von drei verschiedenen Leuten unabhängig voneinander gestellte Frage „willst du unter und mit den jungen Leuten nicht etwas gründen?“ nach. (…) Chiara Lubich hat diesen Friedensweg nach Bosnien auch in all den Jahren begleitet und mir immer wieder geschrieben. Im August 2001 schrieb Eli, ihre Mitgefährtin, mir: „Chiara ermutigt Sie weiterzugehen, voller Vertrauen in Gott und in großer Einheit mit ihren Oberen, wie Sie es bisher gemacht haben. Zweifelsohne wird ER es nicht unterlassen, im gegebenen Moment einzugreifen nach Seinem Willen und dem Plan seiner Liebe.“ (…)

Bei all dem Drängen zu einem solchen Schritt, den ich Ihnen einfach hinhalten möchte, spüre ich auch Angst und Unsicherheit. Würde ein solcher Weg überhaupt gelingen? Und ich spüre sehr, was ich lassen müsste – und das tut weh! Aber ich kann nicht anders, als Ihnen all das zu erzählen. Wenn’s irgendwie möglich ist, würd’ ich gern einmal mit Ihnen darüber sprechen.“

 

Das Gespräch verlief dann ein paar Tage später in großer brüderlicher Freude und Einfachheit. In einem Rundbrief ist zu lesen: „Wir haben viel gelacht und uns an den Früchten erfreut, die in den letzten Jahren aus der Kraft des Evangeliums gewachsen sind. Der Erzbischof hat mir gedankt für die 10 Jahre, die ich jetzt in der Jugendpastoral unseres Erzbistums gelebt und gearbeitet habe. Er hat mir Danke gesagt, dass ich damals seinem Wunsch entsprochen habe und nach Hardehausen gegangen bin. Er hat mich zugleich gebeten, Hardehausen und dem Amt des Diözesanjugendpfarrers noch wenigstens bis zum Weltjugendtag 2005 in Köln treu zu bleiben.“ Damit waren die Linien für die nächste Zeit gelegt und dann schenkte der Erzbischof mir noch einen Druck aus dem Abdinghofevangeliar, das Jesus – reiche Nahrung versprechend – zeigt und die Bibel den 12 Apostel hinhaltend mit dem Auftrag: „Geht hinaus in alle Welt und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!“. Seine Worte „Das ist doch Euer Weg mit den kleinen Karten! Die gehen doch auch schon in alle Welt! Macht weiter auf diesem Weg!“ sollten die letzten gewesen sein. Denn wenige Tage später, während des Weltjugendtages in Toronto erreichte uns in Kanada die Nachricht seines plötzlichen Todes. Er hatte es noch ermöglicht, dass in unserer Paderborner Diözesan-Gruppe  für den Weltjugendtag – bestehend aus 400 jungen Leuten – auch 7 junge Leute aus der Erzdiözese Sarajevo sein konnten.

 

Unser tastendes Träumen nach einem ständigen Ort ging weiter. Im September ist in einem Brief an die Jugendlichen in Sarajevo zu lesen: “Liebe junge Freunde des Wortes in Sarajevo, in den vergangenen Tagen ist mir immer wieder im Gebet für Euch und Eure Stadt das Bild des Papstes gekommen, in der Stadt der Menschen die Stadt Gottes zu bauen. Und dann sein Ruf: Diese Bauleute sollt ihr sein! Ich möchte Euch das für Sarajevo zurufen! Die Bauleute der neuen Stadt für Eure Stadt Sarajevo sollt ihr sein! In der Stadt Bosniens die Stadt Gottes bauen. Und dann habe ich eine Frage in meinem Herzen gespürt. Ich dachte an das vergangene Jahr, als einige von Euch den Wunsch hatten, immer zusammen zu sein, um das Leben des Evangeliums 24 Stunden lang konkret zu tun. So fragte ich mich: ‚Was hindert euch daran, mit einer solchen Erfahrung konkret zu beginnen? Was hindert Euch, gemeinsam in eine Wohnung zu ziehen und damit ein Leben zu beginnen, in dem Jesus immer bei Euch sein kann? Wir verehren in unserer katholischen Kirche Jesus in der Eucharistie. Er ist im verwandelten Brot da und lässt sich be-greifen, ja sogar essen. Er lebt immer in den Tabernakeln unserer Kirchen und will dort besucht und verehrt werden. Aber ich dachte: Die vielen, die unseren Glauben nicht teilen, brauchen einen anderen Tabernakel. Sie brauchen einen Tabernakel aus lebendigen Steinen, der ihr seid! Sie brauchen einen Ort, wo sie den verborgenen Gott unter Menschen gegenwärtig finden. Denn unsere Welt und vor allem Eure Stadt hat eine unendliche Sehnsucht nach dem Gott, der uns die Freude und den Frieden verheißen hat. Freilich ist der Weg dorthin nicht leicht, sondern steil – sagt der Papst – und dazu müssen wir immer mehr das Volk der Bergpredigt werden, also arm vor Gott, hungernd nach ihm, sogar um seinetwillen verfolgt!“

 

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „tell me your story“ hält Stefan Kube am 24. November 2002 im großen Saal des Jugendhauses einen Vortrag zum Thema „Islam in Sarajevo – Zwischen Minarett und Kirchturm – Stefan Kube berichtet aus 7 Monaten Sarajevo“.

 

„Wandern für die Anderen!“ – Unter diesem Motto organisiert das Gymnasium Schmallenberg seit einigen Jahren einen Sponseringmarsch für verschiedene soziale Projekte. Anna Degenhardt, eine Schülerin des Gymnasiums, macht sich stark für den Friedenweg und erreicht, dass uns am 03.12.2002 für den Wiederaufbau des Hauses der Eltern von Berislav Zuparic eine erwanderte Summe zur Verfügung gestellt wird.

 

Im Dezember 2002 bin ich erneut zu einem Kurzbesuch in Sarajevo. Kardinal Puljic ermutigt uns, den Weg der Freunde des Wortes in seiner Stadt weiter zu gehen und auch immer neu den Kontakt zu den Priestern der Stadt zu suchen. Die Freunde des Wortes sind sehr lebendig in der Stadt. Sie treffen sich 14-tägig am Sonntag nach der Messe. Treffpunkt ist weiter die von uns für 300 KM pro Monat angemietete Wohnung von Ljubica. Die Weihnachtskarten-Aktion der Freunde des Wortes hat erneut über 400 € erbracht. Die Freunde des Wortes in Sarajevo haben zum zweiten Mal von diesem Geld Lebensmittel für bedürftige Leute gekauft, sie schön verpackt und mit Hilfe von Caritas-Helfern bei den Leuten verteilt. Dieses Zeichen hat in Sarajevo sehr bewegt. Ich besuche in den Tagen Familie Pavlovic, Tomo, Dragana, Familie Markovic, die Schwestern von Egypat und andere.

Gegen Ende des Jahres geht eine schockierende Nachricht um die Welt. In Kojinic, ca. 1 Stunde von Sarajevo entfernt, wird am Heiligen Abend eine vierköpfige katholische Familie von einem maskierten Mann erschossen. Die Mutter und zwei Kinder waren sofort tot. Der Vater überlebte nur kurze Zeit schwerstverletzt. Der Priester, Anton, ein sehr glaubwürdiger und echter Geistlicher, der in Bosnien sehr beliebt ist und Christen und Muslimen hilft, hat bei einem Radio-Interview nur geweint. Die Kirche in Bosnien stand in diesen Tagen sehr unter Schock. Auch in mir blieb am Ende des Jahres diese Tat wie ein Ruf, nein ein Schrei alles uns nur Mögliche für den Frieden zu tun.

 

2003

das achte Jahr

Natascha, eine junge Lehrerin, hat mit Hilfe ihrer Freundinnen Maca, Sanja und Dragana, eine Performance mit Schülerinnen eingeübt, in der sie das Thema „Frieden“ auf der Grundlage des Evangeliums dargestellt hat. Diese Performance “MIR“ haben sie an verschiedenen katholischen Schulen Bosniens aufgeführt und eine sehr gute Kritik bekommen. Die „Kultur des Sich-Gebens“ wurde darin thematisiert. Ihre Schüler waren und sind jetzt so interessiert, dass sie alle am Sommercamp teilnehmen wollen.

 

Vor Ostern, am 40. Jahrestag der Enzyklika „pacem in terris“ haben wir vor dem Haupthaus unseres Jugendhauses einen 7 Meter hohen „Friedensmahner“ aufgestellt. Er zeigt in vier Sprachen die Aufschrift „Frieden auf Erden“. Mittlerweile stehen an über 200 Orten in 13 Ländern kleinere Mahner (2,50 Meter). Verschiedenste Sprachen können je nach Wunsch über unser Jugendhaus-Büro zusammengestellt und geordert werden. Den ersten kleinen Friedensmahner haben wir im Rahmen eines Schulendtagskurses des „Gymnasium Marianum“ aus Warburg in Berlin-Mitte vor der Herz-Jesu-Kirche aufgestellt und anschließend mit mehreren Bundespolitikern  über „Möglichkeiten zum Frieden“ diskutiert. U.a. waren Claudia Nolte, die ehemalige Bundesjugendministerin und Frau Thierse, die Frau des Bundestagspräsidenten, mit von der Partie.

 

Ein weiteres Friedenszeichen sind kleine Schlüsselanhänger, die mit einer „Time-out-Karte“ für 1 € abgegeben werden. Sie erinnern mittlerweile viele Menschen täglich daran, ihren je eigenen Beitrag zum Frieden zu tun. Auf den Schlüsselanhängern sind 3 Friedensimperative aufgedruckt: die Goldene Regel, für den anderen das zu tun, was ich mir von ihm getan wünsche (1), täglich für den Frieden zu beten (2) und täglich einen Schritt des Friedens zu wagen (3).

 

Annedore Wilmes war als offizielle Vertreterin des Erzbistums Paderborn in Rom, um das Weltjugendtagskreuz von Papst Johannes Paul II. in einer deutschen Delegation für Deutschland entgegen zu nehmen und auf dem Weg nach Deutschland zu begleiten. Sie erzählte betroffen und begeistert von den Begegnungen „rund um das Kreuz und mit dem Kreuz“. „Als wir in Rom das Kreuz empfingen, habe ich mir versucht vorzustellen, durch wie viele Hände das Kreuz bereits gewandert ist und für wie viele Menschen in unterschiedlichsten Ländern das WJT-Kreuz zu einem ganz besonderen Kreuz geworden ist. (…) In mir war und bleibt die Hoffnung, dass wir deutschen Jugendlichen der Aufforderung des Papstes, auf das Kreuz zu schauen und ihm nahe zu kommen, um Jesu Willen folgen können!“

 

„Ostern international 2003“ vereint erneut junge Leute aus Tschechien, Albanien und Bosnien. Höhepunkt war nach der karfreitäglichen Auseinandersetzung mit unserem eigenen Leid ein Ostertanz, den vorrangig bosnische Jugendliche in der Osterliturgie aufgeführt haben. Es war bewegend zu sehen, wie die kleine Crew darstellte, dass Jesus durch sein Leiden und Sterben hindurch in einer neue Gegenwartsweise bei den Seinen bleiben wollte und will.

 

Am 15. Juni 2003 wurde mit einem großen Fest der Friedenskindergarten in Vidovice eingeweiht. Mit einer kleinen Gruppe aus den verschiedenen Jahren zusammengestellt, fahren wir hin. Parallel findet in Hardehausen das Hoffest statt. Zu Beginn des Gottesdienstes in der Scheune von Hardehausen erzählen wir kurz über Telefon „in die Scheune hinein“ von den Entwicklungen in Vidovice. Alice Meyer, eine Teilnehmerin aus den ersten Jahren, schreibt in einem Artikel für die „akzente“ über die Einweihung des Kindergartens: „Die Eindrücke des alten, neuen Dorfes machen einigen etwas zu schaffen (oder ist das doch eher der Schnaps vom Vorabend), aber immer wieder fällt das Wort, Vidovice sei nicht wieder zu erkennen. Wir laufen bei Hitze und unerhört hoher Luftfeuchtigkeit umher. In den vertrauten Gesichtern erahnt man, dass der Aufenthalt bewegt. Ist es das letzte Mal, dass ich hier bin? Ist es Freude über den Fortschritt? Oder nur die Tatsache, dass schon wieder so viel Zeit verflogen ist? An verschiedenen Orten werden heftige Erinnerungen wach. Hier wurde vieles beendet und vieles nahm seinen Anfang.“ Kardinal Puljic ist gekommen und feiert mit vielen Ehrengästen ein feierliches Hochamt. Und dann wird getanzt und gelacht und natürlich gut gegessen. Und doch, der Friedenskindergarten, über Jahre unter Mühen aufgebaut, ist auch heute (2008) immer noch nicht in Betrieb genommen – aus welchen Gründen auch immer. Bei aller Freude bleibt ein bitterer Nachgeschmack zurück.

 

Im Sommer findet vom 04. – 21.08.2003 mit TeilnehmerInnen aus Frankreich, Albanien, Bosnien und Deutschland das achte große Friedenscamp in Sarajevo statt. Vorher bin ich erneut für drei Wochen in Sarajevo. Mittlerweile ist uns für die  Aufbau- und Begegnungs-Camps schon so viel Know-how zugewachsen, dass wir mit genaueren Orga-Plänen arbeiten. Baulich arbeiten wir in Vogosca bei Familie Markovic und renovieren die kleine angemietete Wohnung. Der Kreativ-Workshop nimmt eine große Begegnungs-Plastik von Helmut Elbracht mit und wird sie vor dem Haus der Familie Lasica aufstellen, ein weiterer Teil dieses Workshops beschäftigt sich mit den sieben letzten Worten Jesu am Kreuz und schafft dazu bildliche Darstellungen und weiter wird erneut eine Tanz-Performance entwickelt und eingeübt, die vor der Kathedrale in der Fußgängerzone von Sarajevo aufgeführt wird.

 

Und wieder die packendste Erfahrung dieses Camps: „Gegen 20.30 Uhr kam ich auf die Baustelle. Erleuchtet wurde sie von laufenden PKW-Motoren. Ich sah wie all die Jugendlichen mittlerweile über 13 Stunden an ihrem letzten Arbeitstag emsig auf dem Bau arbeiteten. Der noch fehlende Beton wurde in einer kleinen Mischmaschine gemischt. Dann ging er behände von Hand zu Hand über Leitern in die Ecke des Daches, wo er gebraucht wurde. Unser Motto heute: Ameise sein! Es war zu sehen. Mit einer Kiste Bier, Wurst und Brot im Wagen blieb ich schweigend stehen. Ich lud die jungen Leute ein, die erste Gruppe jetzt zum Abschlussabend in den Kindergarten zu bringen. Aber keiner wollte mitfahren. ‚Nein, diese Sache bringen wir jetzt noch gemeinsam zum Ende!’ Im Halbdunkel betrachtete ich das emsige rege Treiben. Ich verstand, das Evangelium ist wirklich eine Kraft. Es hat die Kraft, junge Menschen im Ideal der universalen Geschwisterlichkeit zu formen. Sie verzichteten um etwas Größeren Willen. Am Ende, es war fast Mitternacht, ergriff die Mutter des Hauses, Frau Markovic, das Wort: „Ich muss euch sagen, in jedem Stein unseres Hauses ist Eure Liebe gegenwärtig. Ihr habt mehr gegeben, als ihr konntet. Dieses Beispiel hat unser Herz berührt. Ich möchte Euch im Namen meiner Familie mehr als Danke sagen. Ihr gehört jetzt zu uns!’ Dann weinte sie.“

 

 

die zweite Generation FSJlerinnen

Am Ende des Camps bleibt Christina Kuhn in Sarajevo. Sie zieht in die kleine Wohnung von Ljubica ein, lernt die kroatische Sprache und arbeitet im Kindergarten in Egypat. Im Gegenzug kommen Emica Boric und Ivana Veza ins Jugendhaus Hardehausen. Sie wohnen bei zwei Familien in Warburg und kommen jeden Morgen zur Arbeit ins Jugendhaus gefahren. Es wird für beide Seiten ein gutes und Erkenntnis bringendes Jahr.

 

Emica und Ivana waren während ihres Jahres immer wieder in die Vorbereitung auf den Weltjugendtag eingebunden. Höhepunkte ihres Jahres waren zwei Tänze, die sie selber entwickelt haben. Um Weihnachten herum war es das Wort „und das Wort ist Fleisch geworden“, später dann im Rahmen des Kreuzweges des Weltjugendtagskreuzes war es der Weg Jesu durch Kreuz, Leiden und Tod hindurch zur Auferstehung, den die beiden haben Tanz werden lassen. Beide Performances haben sie jeweils an ca. 10 Orten aufgeführt und das Evangelium so in ihrer Art verkündigt. Einer der bewegendsten Augenblicke war, als Emica und Ivana den „Kreuztanz“ in Shkodra (Albanien)  - während des Weges mit dem Weltjugendtagskreuz - in der größten Kathedrale des Balkans vor weit über 1000 meist jungen Menschen zeigten und dafür lang anhaltenden Beifall ernteten. Ich sehe noch eine alte Schwester der ‚missionaries of charity’ (von Mutter Theresa), die nach der Präsentation mit ihrem Stock zu den beiden humpelte und ihnen immer wieder anerkennend auf die Schulter klopfte. Es fiel uns allen im Jugendhaus schwer, die beiden nach ihrem FSJ wieder gehen zu lassen. „Sie sind vielen Freund geworden. Als ich sie wieder nach Dortmund zum Bus brachte, spürte ich, wie vertraut wir einander in diesem Jahr geworden sind. Der Schmerz der Trennung ist ja immer ein guter Seismograph dafür!“

 

Christina Kuhn schrieb: „Im letzten Brief habe ich geschrieben, dass ich mir die Anfangszeit viel schwerer vorgestellt hatte und echt positiv überrascht war, wie super es mir dann ging. Aber was hatten wir auf dem Vorbereitungsseminar über den ‚Kulturschock’ bzw. die ‚Sauerkrautphase’ gehört? In der Anfangszeit ist alles neu und aufregend, exotisch, schön und toll. Nach zwei oder drei Monaten setzt der Kulturschock ein: das aufregende Außergewöhnliche wird zum Alltag, das Neue und Andere ist auf einmal nervig. Man will lieber alles so wie zu Hause. Auch merkt man, dass die Sprache noch immer ein Problem ist, was am Anfang spannend war, kann schnell ermüdend werden. Ja, den ersten Monat Hochphase habe ich eingehalten. Und im zweiten Monat packte mich dann aber auch das Tief.“ Christina kam gut durch das Jahr, zwei Mal habe ich mein Versprechen eingelöst, vorbei zu kommen und dann endlos klönen zu können. Auch dieser Rettungsanker war wichtig.

 

Am 27.09.2003 schicken wir einen ersten Konzeptions-Entwurf für ein Jugendhaus in Sarajevo als Vorbereitung für ein Gespräch am 13. Oktober des Jahres in Sarajevo an Kardinal Puljic.

 

Grundlinien sind: Im Herzen von Sarajevo entsteht ein „Haus der Jugend“.

Struktureller Träger dieses Hauses ist die Erzdiözese Sarajevo.

Inhaltlich getragen und belebt wird dieses Haus von einer Gemeinschaft, deren Grundlage das gemeinsam gelebte Evangelium ist. Diese Grundüberzeugung findet ihren Niederschlag in einem gemeinsam zu entwickelnden Tages-, Wochen- und Monatsrhythmus. Die Hausgemeinschaft besteht aus

            ° einem Priester, der in diesem Haus wohnt und für das Gesamt verantwortlich ist,

            ° einer weiteren (sozial-pädagogisch ausgebildeten oder befähigten) Person, die

   Angebote für die Zielgruppe der Jugendlichen ermöglicht, vernetzt und z.T. selbst

   anbietet. Es legt sich nahe, diese Stelle als Gegenüber zu dem Priester mit einer Frau

   zu besetzen.

°einigen Studenten und Studentinnen, die das Leben des Evangeliums für sich als

  Leben prägend entdeckt haben und diesen Weg gemeinsam vertiefen wollen.

° ein bis zwei FSJ-lerInnen aus Deutschland.

Diese Hausgemeinschaft trägt und garantiert das Leben und den Geist des Hauses. Die ersten beiden Personen sind über längere Jahre für das Haus verantwortlich, die Studenten leben für 1 – 3 Jahre mit, die FSJ-ler jeweils für ein Jahr. Die beiden zu letzt genannten Gruppen werden von der Hausleitung ausgesucht und begleitet. Voraussetzung für das Mitleben im Haus sind die Bereitschaft, ein am Evangelium orientiertes gemeinschaftliches Leben führen zu wollen, die Arbeit des Hauses und die auf Jugendliche hin ausgerichteten Angebote des Hauses durch eigene Fähigkeiten mitgestalten zu wollen.

 

Auch zu den Zielgruppen des Hauses, der Lokalität und der Finanzierung werden in diesem ersten Entwurf Aussagen gemacht. Dieses Papier ist Frucht u.a. eines Gespräches bei Renovabis in München-Freising am 15.07.2003 mit Herrn Schedler und Herrn Bertram von Renovabis und mit Ilona Exner und mir von Seiten des Jugendhauses Hardehausen.

 

Herbert Schedler, Länderreferent von Renovabis für Bosnien, richtet einen ähnlichen Vorschlag an Kardinal Puljic. Daraufhin antwortet der Kardinal: „Die Idee von Pfarrer Meinolf Wacker ist mir wohl bekannt. Ich denke auch, dass sie gerade in Sarajevo einen tiefen Sinn hätte. Ein Jugendhaus in Sarajevo wäre viel mehr als einen Schlafraum zu haben. Sarajevo ist leider ein Weltsymbol der Zerstörung geworden. Es scheint mir richtig, gerade in Sarajevo diese Begegnungsidee zu realisieren. Daher unterstütze ich voll und ganz dieses Programm. Wir werden uns bemühen, sobald wie möglich es zu verwirklichen. Ich wäre Ihnen und Renovabis sehr dankbar, dieses Programm zu unterstützen. Daher empfehle ich es vom ganzen Herzen und bete dafür.“

 

Im November 2003 rief nachts Dragana, die erste FSJ-lerin, an. Ihr Haus stand in Flammen und nur mit viel Glück und Einsatz der Feuerwehr wurde es nicht gänzlich ein Raub der Flammen. Die Auto-Werkstatt ihres Bruders, die diese von seinem Vater, der im Krieg durch Granaten umgekommen war, übernommen hatte, war völlig verbrannt. Damit war in schwerer Zeit die Lebensgrundlage zerstört. Durch die enorme Hitze hatte das ganzes Haus gelitten. Die Mauern hatten Risse bekommen. Total ohnmächtig hatte Dragan, ihr Bruder, mit einem kleinen Gartenschlauch vor den riesigen Flammen gestanden und mit ansehen müssen, wie alles zerstört wurde. Noch immer war er ganz geschockt ohne zu wissen, wie es weiter gehen soll. Immer wieder habe ich mich gefragt. Warum muss dieser Familie so viel Schweres passieren? Der Vater ist im Krieg gestorben. Alle sind von schwierigen Krankheiten gezeichnet, mehrere Familienmitglieder sind z.T. sehr schmerzvoll gestorben und zu alle dem soll in den nächsten Jahren noch eine große Straße über ihr Grundstück gebaut werden… Warum so viel Leid bei einer Familie? Diese Frage gehört mit auf meine apokalyptische Liste, die ich Gott im anderen Leben vorgelegen werde. Für den Augenblick bleibt nur echte, gelebte Solidarität und so sammelten wir einen ganzen Batzen Geld und konnten so ein wenig Hoffnung in schwieriger Situation bringen.

 

Wir hatten die Reise von Papst Johannes Paul II. im Jugendhaus aufmerksam mitverfolgt und ihm einen längeren Brief geschrieben. Im August  kommt ein Antwortschreiben aus dem Vatikan. U.a. heißt es da: „Seine Heiligkeit hat mich beauftragt, Ihnen für Ihr Gebet und für dieses Zeichen Ihrer Verbundenheit mit seinem Apostolischen Dienst, das die katholische Jugend im Erzbistum Paderborn auch mit ihrem konkreten Einsatz für die Verständigung mit den Menschen in Bosnien-Herzegowina unterstreicht, aufrichtig zu danken. Papst Johannes Paul II. nimmt Ihre Anliegen in Sein Beten auf, er ermutigt die jungen Leute in ihrem Auftrag, Bauleute für eine humanere und friedlichere Welt zu sein, und erteilt Ihnen und allen, die dem Jugendhaus Hardehausen verbunden sind, von Herzen den Apostolischen Segen.“

 

2004

das Weltjugendtagskreuz „on tour“ – mit dem Jugendhaus

Am 23. März abends machten wir uns mit einer kleinen Gruppe albanischer, bosnischer und deutscher junger Leute mit 2 Bullis – natürlich ist der grüne aus Hardehausen wie immer dabei - auf den Weg nach Albanien, um in Shkodra (Nordalbanien) dem Weltjugendtagskreuz zu begegnen und es durch 7 Pfarreien Bosniens begleitend nach Deutschland zu bringen. Dieses ON-TOUR-SEIN mit dem WJT-Kreuz gehörte mit zum Bewegendsten der vergangenen Jahre und war einer der geistlichen Höhepunkte unseres Friedensweges. Im ständigen Kontakt mit Kardinal Puljic in Sarajevo, Simo in Rom und Georg Austen vom Weltjugendtagsbüro in Köln hatten wir den Weg vorzubreiten versucht. Am 23. März starteten wir dennoch in ein ungewisses Abenteuer. Zunächst nach Sarajevo mit einem nächtlichen Zwischenstopp und der Begegnung „bei alten Freunden“. Besonders herzlich wurden wir in der Familie von Dragana aufgenommen und bewirtet. In Sarajevo stieß Arianita Lukaj, eine Albanerin – in Deutschland lebend - zu uns, der wir trotz viel Mühe kein Transitvisum durch Kroatien mehr hatten besorgen können. Dann ging es weiter nach Montenegro – bei strömendem Regen und über nicht geteerte, völlig verschlammte Wege. Oft kamen wir kaum noch weiter – vor allem als es noch zu schneien begann. Hier sei nur fest gehalten: Wir sind durchgekommen. Tief in der Nacht – nach ungeheuer vielen Hindernissen naturhafter und bürokratischer Art an den Grenzen erreichten wir Shkodra in Nordalbanien.

„Als wir in die kleine Kirche in Albanien kamen und das Kreuz und die Jugendlichen inmitten all dieser durchnässten und ärmlich gekleideten jungen Leute sahen, wusste ich: Mit diesem Kreuz ist ER da. Jesus ist da!“ Diese Worte richtete Annedore Wilmes einige Tage später in Berlin in der Johannes-Basilika bei der Offiziellen Weltjugendtagskreuzübergabe an ca. 1500 junge Leute, die zum festlichen vom ZDF übertragenen Palmsonntags-Gottesdienst in die Kirche gekommen waren. Aber es waren fast die Hälfte der jungen Leute unserer Gruppe, die zu weinen begannen, als sie dem Kreuz in der kleinen Dorfkirche „am Ende der Welt“ zum ersten Mal begegneten, Christina, die bereits in frühen Jahren ihren Vater verloren hatte, Annedore, die mit dem Leid des Schlaganfalls ihrer Mutter als 16-jährige fertig werden musste, Arthur, der früh seine Heimat in Polen hatte verlassen müssen, Schwester Daniele, die als Krankenschwester viel Leid gesehen und eigenes durchzutragen gehabt hatte, Berislav, der während des Bosnienkrieges seine Heimat hatte verlassen müssen und dessen Lebensweg weiter unter den Belastungen des Krieges litt, Marijanna und Emica, deren Schwester schwerstbehindert war… Ein jeder spürte auf einmal: ER ist da – für MICH.

„Nachdem ein uns zugesagtes Transportfahrzeug für das Kreuz in Albanien zusammen gebrochen war, blieb uns nichts anderes übrig, als das Kreuz ohne die zu sperrige Transportkiste in unseren Bullis zu transportieren, denn die Jugendlichen in Bosnien – 300 km durchs Bergland entfernt - warteten ja schon. So lagen die beiden Holzbalken, einer von ihnen ist ca. 4 Meter lang, in unseren Wagen zwischen Rucksäcken und Schlafsäcken. Proviant lag auf ihnen und dann und wann auch ein bei den über 2000 Kilometern Fahrt zu müde gewordener Kopf. Es wurde gesungen und gelacht, gebetet und erzählt. Es wurde gedolmetscht und geschlafen. Und bei all dem war das Kreuz, war Jesus mit dabei. Diese beiden schlichten Balken aus Holz, vor denen schon unzählige junge Menschen gebetet und geweint hatten. Diese miteinander und mit dem Kreuz ‚geteilte Zeit’ waren Augenblicke, die sich uns tief eingeprägt haben. ER bei uns. ER mit uns auf dem Weg.“ (Rundbrief Juli 2004)

 

2004 – eine Friedens-Performance in Deutschland

In Sarajevo steht uns der Kindergarten in Stup als Unterbringungsort für das Camp nicht mehr zur Verfügung. Er wird baulich in eine Schule umgewandelt. Für die Europa-Schule im Zentrum der Stadt müssten wir 5 € pro Tag pro Teilnehmer zahlen. Der Rektor der Schule Msgr. Mestrovic bringt kein Verständnis für Jugendarbeit auf. Die bisher in der Jugendarbeit der Stadt sehr engagierten „älteren Freunde des Wortes“ werden aufgrund eigener Fortentwicklungen dieses Jahr nicht durchgängig als Leiterinnen  auftreten können. Vielmehr fragen sie mittlerweile in ihren begrenzten Urlaubszeiten nach „Nahrung für ihr eigenes Unterwegssein“. Weiterhin ist im Blick auf Sarajevo die „Idee Jugendhaus“ noch nicht so weit fortentwickelt, dass dieses Projekt „Baustelle“ für das diesjährige Camp sein könnte. Aber dennoch sehnen sich die Jugendlichen aus Bosnien nach einer Sommermaßnahme für sie. Emica und Ivana haben uns diese Reaktionen deutlich zugespielt. 

So entscheiden wir im pädagogischen Team die Jugendbegegnung im Rahmen des Friedensweges dieses Jahr vom 2.-20. August in Deutschland zu gestalten als eine Performance-Tournee durch verschiedene deutsche Städte mit dem Titel „Sarajevo – eine vergessene Stadt“. Leicht fiel uns diese Entscheidung nicht. „Auch wenn es schmerzhaft für uns war, entscheiden zu müssen, dieses Jahr den Charakter des Baucamps aufzugeben, haben wir doch den Eindruck, dass wir damit eine neue Etappe des Friedensweges eingeläutet haben. Unser gemeinsames  internationales Leben auf der Grundlage des Evangeliums bleibt Fundament des Camps und wir nehmen das Jugendhaus in Sarajevo mittlerweile klar in Blick.“, heißt es in einem Rundbrief im Februar des Jahres.

 

An dieser Begegnung nehmen 26 Jugendliche aus Tschechien, Bosnien und Deutschland teil. Erstmals ist auch Simo Marsic – direkt aus Rom zu dem Camp einfliegend - in seiner zukünftigen Rolle als Jugendpfarrer der Erzdiözese Sarajevo (ab Herbst 2004) mit dabei. Mit seiner – zwar zu dieser Zeit noch ausstehenden – Ernennung zum Jugendpfarrer geht ein seit Jahren gehegter Traum in Erfüllung, in der Erzdiözese Sarajevo ein Pendant – auf menschlicher, aber eben auch auf struktureller Ebene zu finden. Wir freuen uns sehr, dass Kardinal Puljic Simo ausgewählt hat. Neben seiner Haupttätigkeit als Jugendpfarrer und Rektor des kleinen entstehenden Jugendhauses, wohnt er zurzeit noch im Priesterseminar und ist dort auch Professor für Pastoraltheologie. Und erstmals sind in der Gruppe auch drei Mädchen aus dem katholischen Kinderheim Egypat aus Sarajevo, Dragana Babic, Janja Dulabic und Zora Badrov. Glücklicherweise gingen die Visumsformalitäten mittlerweile gut und schnell von statten, da wir an der Deutschen Botschaft von Sarajevo nach all den Jahren gut bekannt und als „vertrauenswürdig“ eingestuft waren. Orte der Aufführung der Performance waren Warburg (8.8.), Weimar (9.-10.08.), Brilon (11.08.), Attendorn (12.-13.08.) und Recht und Schönberg in Belgien am 15.08. An der  Aufführung in Warburg nahm Familie Kasumov teil – so dass wir im Anschluss noch mit ihnen einen „Pott Kaffee“ trinken konnten.

Bevor es zur Entwicklung der Performance kommt, durchlaufen die TeilnehmerInnen einen Prozess der Auseinandersetzung mit der vorrangig jüngsten bosnischen Geschichte. Emica und Ivana, die beiden ehemaligen FSJ-lerinnen, haben die Grundidee der Performance „to give“ bereits in ein Handlungsmodell umgesetzt. Grundlage für ihre Arbeit war eine Performance, die sie im Mai dieses Jahres beim Süd-Ost-Europäischen Katholikentag in Mariazell (Österreich) mit einer Gruppe bosnischer Mädchen des katholischen Schulzentrums in Sarajevo aufgeführt hatten. Auf dieser Grundlage begann die Gruppe zu arbeiten.

Zur Tournee gestalteten sie einen Flyer, in dem es hieß: „Sarajevo als vergessene (?) Stadt - steht im inhaltlichen Mittelpunkt der Performance. Bosnische und deutsche Jugendliche mit besonderer künstlerischer Begabung führen in drei Akten durch die Geschichte der Stadt. Drei Gesichter und Gemütszustände werden dabei durch Musik, Tanz, Akrobatik zum Ausdruck gebracht: Sarajevo als lebensfrohe, kulturell vielseitige Stadt, in der ein Mit- und Nebeneinander verschiedener Kulturen und Religionen möglich ist; Sarajevo als Stadt, in der sich allmählich Ausgrenzung und Misstrauen voreinander bemerkbar machen, bis sie von Gewalt und Krieg überrollt wird.

Diese Entwicklung von der funktionierenden Einheit bis zum auseinander brechenden Chaos schien zunächst in einem Moment der Stille, der Trauer, der Resignation zu enden. Der Funke Licht und Hoffnung, im Ausdruckstanz einer einzelnen Tänzerin verkörpert, findet zunächst bei den Menschen der Stadt keine Resonanz. Der Mut zum Weiterleben scheint verloren. Um diesen Frieden möglich zu machen, bedarf es einer Entscheidung und den Glauben, dass Frieden möglich ist, auch wenn die Umstände vordergründig absolut nichts davon verraten. Diese Botschaft wird an der Entwicklung Sarajevos deutlich.

Der dritte Akt zeigt Gesten und Schritte des neuen Anfangs. Ein Mensch entscheidet sich doch aufzustehen. Aufstehen, Weitergehen, den ersten Schritt tun! Seine Schritte berühren und bewegen. Das Leben kehrt allmählich in die Stadt zurück. Dabei wird kein absolutes Friedensbild gezeichnet, welches der Realität Sarajevos nicht entspräche. Vielmehr ist es ein Bild der Hoffnung und des Glaubens. Es ist ein Blick mitten in das Geschehen und in den Prozess des Werdens, von dem an anderen Orten der Welt gelernt werden kann, der aber ebenso auch andere Menschen und Orte zur Unterstützung braucht.“

Neben der Performance arbeiten Jugendliche an kleinen Kunstgegenständen (Friedensmahner, Schlüsselanhänger, Friedenswürfel…), die sie bei den Performances zum Verkauf für das Friedensprojekt anbieten.

Kurz vor dem Camp lernten wir – durch einen Hilferuf aus dem Klarissenkloster in Paderborn – Familie Kasumov kennen. Sie waren eine Roma-Familie, mittlerweile seit über 4 Jahren in Deutschland mit 5 zum Teil noch sehr kleinen Kindern, der jüngste war gerade 14 Monate alt. Es war entschieden, dass sie innerhalb der nächsten Monate Deutschland wieder verlassen mussten – in Richtung Serbien. Als Roma in Serbien würden sie es sowie so schwer haben, zudem lebte dort nur noch die alte Mutter des Vaters der Familie. Sie wohnten im Flüchtlingshaus in Paderborn in der Nähe des Bahnhofs. Wo sollten sie in Serbien eine Bleibe finden…

Ich stellte die ganze Not und Dramatik der Situation den Jugendlichen des Camps vor. Die Jugendlichen hatten sich zum Ziel gesetzt, mit der Performance auf die Situation auf dem Balkan aufmerksam zu machen und mit den eingehenden Spenden ihr zukünftiges Jugendhaus zu unterstützen. Die Frage stand im Raum: Ist es denkbar, einen Teil des Geldes - vielleicht ein Drittel – an Familie Kasumov weiterzugeben? Die Jugendlichen des Camps zogen sich zurück. Abends kamen sie – vereint. „Wir haben uns nach langer Diskussion entschieden: Wir wollen nicht nur etwas Geld für die Familie geben, wir wollen als Zeichen der Brücke zwischen Menschen, die in Not geraten, alles geben. Die Tour soll für diese Familie sein!“ Wir waren total gerührt über diese menschliche Größe. Mir kam ein Lukaswort in den Sinn: „Mit dem Maß mit dem ihr messt, wird auch euch gemessen werden!“ Hier erlebten wir eine Maßlosigkeit der Liebe.

Und diese Maßlosigkeit wurde in kleinen Zeichen belohnt: In Weimar blieb eine ältere Frau aus dem Laufpublikum fast während der ganzen Performance stehen. Sie schaute gebannt zu. Nach der Performance sprach sie uns an – in englischer Sprache. Sie kam aus Kanada, hatte die Performance sprachlich folglich nicht verstehen können, aber die dargestellte Botschaft war ihr tief ins Herz gefallen. „Ich habe die ganze Zeit mit den Menschen auf dem Balkan gelitten, aber ich konnte nichts machen! Jetzt erlebe ich Euch hier, wie ihr für den Frieden lebt!“ Sie hatte Tränen in den Augen. Dann nahm sie ihr Portemonnaie und schüttete es ganz aus. Alle Münzen und kleinen Scheine wanderten in den Spendentopf.

Wir beschlossen die Tage mit 3 „Ausklangtagen“ im Selbstversorgerhaus der Landjugend in Hoinkhausen. Es tat gut, noch ohne Performancestress beieinander sein zu können.

 

Erschütterndes

„Das Erschütternste, das auch nach über einem Monat noch immer nichts von seiner Härte und Grausamkeit verloren hat, muss ich gleich zu Beginn erzählen. In meinen letzten Ferientagen erreichte mich am 26. September  eine sms, dass Dragan, der Bruder Draganas, die als erste ein Freiwilliges Soziales Jahr bei uns im Jugendhaus gemacht hatte, tödlich mit dem Auto verunglückt war. Ein schwerer BMW war kurz vor Zenica in seinen kleinen Fiat Punto hinein gerast. Schuldlos starb er noch auf der Strasse. Als mich diese Botschaft erreichte, bekam ich zunächst keine Luft mehr. Ich war noch in den Schweizer Bergen. Ich bin dort in eine kleine Dorfkirche gegangen und habe geweint. Was für eine Ungerechtigkeit! Im Krieg war der Vater dieser Familie getötet worden, eine Schwester Dragans psychisch durch all die Belastungen schwer erkrankt. Und auch nach dem Krieg blieb das Leben für alle richtig schwer. Und dann brannte das Haus mit seiner Werkstatt ab. Und jetzt stirbt er unverschuldet auf einer regennassen Strasse. Der Schmerz über seinen Tod hat mich tief getroffen. Immer wieder musste ich an seine Frau und die kleine Sanja, seine Tochter, denken, an Dragana, seine Schwester und seine alte Mutter… Ich bin sofort nach Sarajevo gefahren, einfach um bei ihnen zu sein. Es war so schrecklich und so schwer. Wir haben tagelang lang nur geweint. Und das einzige, was ich tun konnte, war, diesen Schmerz mit aus zu halten.“

 

Zur Beerdigung kamen über 800 Menschen auf einen kleinen Friedhof an einer großen Straßenkreuzung gelegen. Bevor der Sarg Dragans in die Erde eingesenkt wurde, stand er noch in einer kleinen Kapelle, um sich dort von ihm verabschieden zu können. Die Kapelle war erfüllt von Trauern und Weinen, Klagen und Schreien. Ein Augenblick hat mich besonders tief getroffen und den Himmel wieder ein wenig geöffnet. Dragana, die Schwester des Verstorbenen, ergriff in der Kapelle auf einmal das Wort und kam zu jedem, um ihm einen Kuss ihres Bruders zu geben. Sie sagte, das muss ich für einen jeden von euch im Namen meines Bruders tun. Unter all den Tränen spürte ich auf einmal diese Liebe, die in all dem Dunkel blieb. Und die vielen hundert Menschen, die gekommen waren, zeugten von dieser Liebe, die Dragan gelebt hatte. Es waren vor allem viele Arme und Kleine gekommen. Und das waren diejenigen, denen er mit und in seiner Autowerkstatt immer geholfen hatte – oft ohne Bezahlung, obwohl er das Geld so bitternötig gebraucht hätte. Ich erinnere mich noch an einen bitterarmen Mann, der im Winter mit seinem uralten Golf liegen geblieben war. Es war tiefe Nacht. Dragan schleppte ihn ab, schenkte ihm neue Reifen, reparierte sein Auto und ließ ihn ohne Bezahlung wieder gehen. Die Frucht dieses seines Lebens war auf dem Friedhof in den vielen Trauernden auf einmal zu sehen. Es waren Muslime, orthodoxe und katholische Christen. Er hatte Brücken gebaut zwischen vielen. Diese Früchte seiner Liebe „erahnen“ und sogar sehen zu dürfen, war der einzige Trost in diesen Tagen.

 

Am Grab hatte ich ein kleines Holzkreuz aus Israel in der Tasche, es war eines der Kreuze, die wir allen Pilgern gegeben haben, die den Weg des Weltjugendtagskreuzes mitgegangen sind und noch mitgehen. Ich hatte Dragan zum letzten Mal gesehen, als wir das Kreuz von Albanien her kommend nach Sarajevo gebracht hatten. In der Kirche des heiligen Lukas hatten wir gemeinsam an diesem Kreuz gestanden. Jetzt war er schon jenseits des Kreuzes. Als ein Zeichen der Verbundenheit über den Tod hinaus haben wir das kleine Kreuz in sein Grab geworfen und eine Weltjugendtagsgrableuchte an sein Grab gestellt.

 

das Weltjugendtagskreuz „on tour“ – durch unsere Erzdiözese

Über eine Woche hatten wir in den Herbstferien 2004 das Weltjugendtagskreuz zu Gast in unserer Erzdiözese. Wir sind mit einer Gruppe von ca. 25 jungen Leuten die Wegstrecke von Dortmund über Unna, Werl, Soest, Anröchte, Büren, Hardehausen nach Paderborn gelaufen. Auch auf diesem Weg hat sich viel bewegt – vor allem in den Nächten, in denen wir das Kreuz in ein großes Zelt gelegt hatten, um (den Jugendlichen) die Möglichkeit zu geben, dem Kreuz Jesu wachend ganz nahe zu sein. Ich erinnere mich an eine Stunde zwischen 3 und 4 Uhr morgens. Ich saß vor dem Kreuz und dachte: Wie verrückt wir doch sind! Wir tragen diese zwei Holzbalken zu Fuß durch das ganze Bistum. (Und haben sie sogar aus Albanien geholt!) Effektivität gleich Null! Aber das gleiche – so dachte ich weiter – gilt ja auch für das Kreuz Jesu. Effektivität gleich Null! - Aber was war das für ein Zeichen der Liebe. Jesus hatte diesen verrückten Weg durchgestanden nur als Liebe. Nur um uns zu zeigen, wie weit Liebe gehen kann - sich verschenken bis zum Letzten! Schweigend - wie erschüttert über diese stille Erkenntnis - hatte ich lange vor dem Kreuz gesessen. Ich verstand: Nur diese Botschaft kann letztlich die Herzen von Menschen bewegen und „erobern“. Hier zeigt sich eine Liebe, die niemals sagt: Jetzt ist Schluss! Sondern: Ich bin bei dir, egal wohin du abdriftest. Was für eine Liebe! Diese stille, verborgene Botschaft hat sich vielen eröffnet, die sich Zeit bei dem Kreuz gegeben haben. Aber das Entborgen -Werden dieser Botschaft geschah nicht vulkanartig eruptiv, sondern langsam  wie eine mittelfristige chemische Reaktion. Bis Kreuz und je persönliches Leben reagieren, braucht es Zeit. Das geht nur selten flashartig eruptiv. So wie Wasser langsam in den trockenen Boden eindringt und ihn aufweicht, drang diese Botschaft langsam in die persönlichen Geschichten und Frage-Horizonte vieler ein.

Und wir waren verbunden mit vielen, die uns ihr Leid anvertraut hatten. Auch mit Simo Marsic und mit Emica, Matea und Ivana. Die vier wollten die letzte Etappe des Kreuzweges von Hardehausen nach Paderborn mitgehen und uns einen Tanz vor dem Kreuz präsentieren. Leider verunglückten sie auf der Autobahn bei Karlsruhe und konnten nicht weiter fahren. Auch diesen Schmerz haben wir mitgetragen.

 

Die vorletzte Etappe des Kreuzes ging von Blankenrode durch den Hardehauser Wald nach Hardehausen. Langsam wurde es dunkel. Über 300 Menschen hatten sich für diese Etappe in Blankenrode eingefunden. Schweigend zogen wir beim Abendlicht dem alten Kloster entgegen. Schwester Edilburgis, Schwester Gerburga mit auf dem Weg an dem Ort, wo Schwester Edilburgis insgesamt 52 Jahre ihres Lebens gearbeitet und verschenkt hat. Als wir im Jugendhausgelände eintrafen, erwartete uns unter vielen auch Rolf Schreiber, der Referent für katholische Jugendarbeit im Hochsauerland – bereits schwer von Krebs gezeichnet. Schweigend begegneten sich unsere Blicke. Er war froh, noch einmal da sein zu können. Wenige Wochen später malte er sein letztes Bild – das Weltjugendtagskreuz auf dem Weg zum Licht. 10 Stunden später starb er.

Als das Kreuz im mitwandernden Zelt in Hardehausen neben dem Friedensmahner stand und die ganze Nacht über ein Feuer vor dem Zelt brannte, sah ich viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die auch Wache hielten und das Ihre brachten – die ganze Nacht hindurch, bis wir am nächsten Morgen nach Paderborn weiter zogen. Zwei Tage später haben wir es in der Gedenkstätte Marienborn an Jugendliche und Jugendpfarrer Winfried Runge aus Magdeburg weitergegeben. Aber das Kreuz kam noch ein weiteres Mal zu uns ins Jugendhaus beim Welttreffen Mirjac der katholischen Landjugendbewegung.

 

Am Ende des Jahres fuhr ich mit Annedore Wilmes für 2 Tage nach Sarajevo. Wir wollten die Familie von Dragan zur Jahreswende nicht mit ihrem Schmerz allein lassen. Denn, so war uns mehr als deutlich geworden: Europa wird, wenn du am Grab deines bosnischen Freundes genauso weinst, wie am Grab deines eigenen Bruders. Wir erreichten Sarajevo eine Stunde vor der Jahreswende und gingen gemeinsam hinüber ins Neue.

            2005

 

2005 – das Jahr des Weltjugendtags in Köln

In Zusammenarbeit mit der Dekanatskonferenz des Dekanates Warburg luden wir vom Jugendhaus aus 400 junge Leute aus der Erzdiözese Sarajevo ins Dekanat Warburg ein. Mit den Verantwortlichen der Jugendpastoral in Serbien ergab sich auch ein Kontakt. Sie haben wir ins Nachbardekanat nach Marsberg eingeladen. Am Ende der Tage der Begegnung in unserer Erzdiözese luden wir für Sonntag, den 14.08.2005, zu einem „Fest der Begegnung“ ins Gelände des Jugendhauses ein. Zu Beginn des Jahres liefen die Anmeldungen für die Tage der Begegnung in unserer Erzdiözese sehr schleppend. Das Gleiche galt für die Erzdiözese Sarajevo. Wir entschieden uns: Wir fahren hin und laden ein.

So fuhren Schwester Hiltrude, Annedore Wilmes und ich mit 5 jungen Leuten auf Einladungstour nach Bosnien. Im Christkönigs-Rundbrief 2005 heißt es: Unser Ziel war es, zusammen mit bosnischen Jugendlichen und ihrem Jugendpfarrer in möglichst viele Orte – auch im unwegsamen Bergland – zu kommen, um die bosnischen Jugendlichen zum Weltjugendtag nach Deutschland einzuladen. Unsere deutschen Jugendlichen – größtenteils zum ersten Mal in Bosnien – waren bewegt von der warmherzigen Gastfreundschaft, die sie erleben durften und zur gleichen Zeit geschockt von der großen Armut, die sie vorfanden. ‚Wie können die denn nach Deutschland kommen, wenn sie kaum Geld haben?’ fragte mich Lena aus unserer Gruppe. So wuchs die Idee, einen Sponsoringmarsch in Deutschland zu veranstalten.“

 

‚Bring dich und andere in BeWEGung!’ so wurde er betitelt. Er fand statt am 29.05. Treffpunkt war um 13 Uhr der Marktplatz in Warburg. Und dann liefen die ca. 40 jungen und jung gebliebenen Leute in Richtung Jugendhaus. Sie liefen für die Jugendlichen des Balkans. Sie wurden unterwegs von MitarbeiterInnen des Jugendhauses beköstigt.

Ich werde zwei „Augenblicke“ dieser Erfahrung nicht vergessen. Der Erste: die zweifelnden Augen von Lena, als wir uns noch auf der Fahrt durch Bosnien – Maß nehmend am Evangelium der Brotvermehrung - entschieden: Wie der kleine Junge seine 2 Fische und 5 Brote, so werden wir unseren Teil geben, damit Gott – im Kreislauf der Liebe - den Seinen geben kann. Angepeilt waren 36.000 € Fahrt- und Teilnehmerkostenunterstützung für die Jugendlichen aus Bosnien. Und der zweite Augenblick: die Freudentränen in den Augen von Lena, als wir am Abend des Sponsoringmarsches in der Kirche von Hardehausen die „zwölf Körbe“ voll vor uns stehen hatten. Die 36.000 € waren zusammen gekommen! Und in den Tagen danach ging das Wunder weiter! Es kamen nochmals ca. 10.000 weitere Euro zusammen, so dass wir auch noch einer Gruppe aus Albanien ermöglichen konnten, am Weltjugendtag teilzunehmen.

 

Eine Nacht des Wachens. „Bei allem Planen, In-den-Blick-Nehmen und Vorausdenken wird mir in dieser Zeit immer mehr bewusst, wie sehr Gott in all dem am Werk ist. Er gestaltet Seine Kirche nach Seinen Plänen als „Stadt Gottes in der Stadt der Menschen“, als Sauerteig, Licht und Salz für diese Welt. Vieles, was sich entwickeln und neu zeigen wird, können wir einfach nicht planen und abschätzen. Die Phantasie Gottes übersteigt all unsere Vorstellungen – und sie wird häufig aus dem Dunkel und dem Sterben geboren. Diesem göttlichen Gesetz des Lebens möchten wir in dieser vorösterlichen Zeit Rechnung tragen. Ein ganz einfaches Zeichen wird uns dabei helfen. Am Karfreitag werden wir – wie überall in der Kirche – um 15 Uhr die Karfreitagsliturgie feiern. Nach der Liturgie bleibt der Tabernakel leer und geöffnet – ein Zeichen für Tod, Leere, Ende, Verlassenheit und Perspektivlosigkeit… Die Jünger Jesu waren durch Jesu Tod – innerweltlich gesprochen – ans Ende gekommen. Keiner wusste mehr, wie es weiter gehen sollte. Die Auferstehungserfahrungen waren noch nicht gemacht. Die Erinnerung an die Voraussage Jesu, er werde auferstehen, hatte noch keine Leben prägende Kraft. So gehen alle auseinander und Petrus bringt es Tage nach dem Tod Jesu auf den Punkt: „Ich geh wieder fischen!“ Also: Lass uns zum Altgewohnten zurückkehren!

 

Aber es gab sie! Die Menschen, die das Unfassbare, Nichtverstehbare und Ungerechtfertigte des Todes Jesu einfach ausgehalten und im Schmerz zu stehen versucht haben: Maria unter dem Kreuz, Maria von Magdala, Johannes.... Aus diesem Stehen im Schmerz sind die Begegnungen mit Jesus in seiner neuen Existenzform als Auferstandener geboren worden. Wohl erst im ausgehaltenen Dunkel gehen diese Sterne auf, im Zulassen des Grabes leuchtet die neue Morgenröte. Papst Johannes Paul II. hat die Jugendlichen unserer Zeit  „Wächter auf den Morgen“ genannt. Er traut ihnen zu, dass sie im Dunkel so vieler Lebenssituationen wachsam und Ausschau haltend bleiben. So möchten wir die diesjährige Nacht des Karfreitags (ab 20 Uhr) auf den Karsamstag in unserer Kirche vor dem geöffneten und leeren Tabernakel wachen, das Dunkel und Nichtwissen aushalten und Ausschau halten nach IHM in all seinen verborgenen Gegenwartsweisen, wir möchten dem Morgenrot entgegenharren. Die Nacht wird nicht gestaltet, wir sind einfach da und laden von Mund zu Mund ein, mit uns da zu sein. Wir freuen uns, über alle, die diese Nacht mit uns teilen und das Dunkel der Welt, der Kirche und des eigenen Lebens gemeinsam aushalten werden.

Und vereinzelt kamen sie. Weihbischof Grothe, Frau Thonemann, einige Jugendliche…

 

Kurz vor den Weltjugendtagen beenden wir im Jugendhaus Hardehausen die tief einschneidenden Umbaumaßnahmen im Hauptgebäude. Nach einem sondierenden Gespräch mit Matthias Sellmann von der KSA in Hamm hatten wir uns – der Tradition des Hauses und der Vielfalt der schnell sich wandelnden Jugendszenen verpflichtet – entschieden, bei der Neugestaltung des Hauses der inneren Linie „Frieden in Gott finden“ zu folgen. Vor diesem Gedankenhintergrund war der „Friedensturm“ in der Eingangshalle des Jugendhauses entstanden. 15 Personen, jeweils im Alter von 18 – 25 Jahren abgelichtet und auf der Säule präsentiert, laden ein, über den je eigenen Lebensentwurf nachzudenken und ins Gespräch zu kommen. Neben bekannten Persönlichkeiten wie Papst Johannes Paul II. und Mutter Theresa, haben 4 Personen dort ihren Ort gefunden, die mit unserem Friedensweg in engerem Zusammenhang stehen. Erzbischof Degenhardt, der sein Plazet zu unserem Weg gegeben und uns Zeit seines Lebens nachfragend, begleitend, betend und uns auch finanziell unter die Arme greifend unterstützt hat, Emica Boric, die es gewagt hat,  trotz vieler Gegenstimmen ihrer Freunde in Sarajevo, ein FSJ im für sie deutschen Ausland zu verbringen, Dragan Lasica, der uns in Sarajevo, wo er nur konnte, unterstützt hat und uns ein echter Freund geworden ist und der viel zu früh diese Erde durch den tragischen Autounfall verlassen hat und Charles Moats, der sein Leben in der downtown von Chicago für ein Miteinander zwischen verschiedenen Menschengruppen gegeben hat und der uns durch das Musical streetlight von Gen Rosso besonders nahe gekommen ist.

 

Knapp 400 junge Menschen aus der Erzdiözese Sarajevo kamen mit ihrem Jugendpfarrer Simo Marsic und einigen weiteren Priestern und Jugendpastoralverantwortlichen zum Weltjugendtag und waren vier Tage zu Gast im Dekanat Warburg. Sie kamen mit 8 Bussen und wurden in vielen Familien des Dekanates sehr gastfreundlich aufgenommen. In vielen Pfarreien gab es am „Tag des Sozialen Engagements“ gemeinsame Aktionen, die die jungen Leute „by doing“ zueinander finden ließen. Alle trafen sich bei „ww.together – tage der begegnung in paderborn“ wieder. Sie standen am Samstag, dem 13.08., mit in der abendlichen Friedenskette, die sich auf dem Innenstadtring stehend um die Stadt Paderborn formierte. Eine Friedenskette aus ca. 60 Nationen. Die Polizei gab durch: „Die Kette ist geschlossen!“ Dann beteten wir in unseren Muttersprachen das ‚Vater unser’.

Am Abend des 14. August waren alle bosnischen Jugendlichen zu Gast im Jugendhaus Hardehausen – zusammen mit einer Gruppe Jugendlicher aus den Diözesen Serbiens. Das abschließende Abendgebet auf dem alten Kirchplatz von Hardehausen bleibt unvergessen. Gen Rosso aus Italien war gekommen. „Immer stärker ist er schon zu spüren, dieser Herzschlag einer neuen Zeit!“ sangen sie auf dem alten Kirchplatz und wir schauten in der Dunkelheit, nachdem wir das „Vater unser“ in 8 verschiedenen Sprachen gebetet hatten, in weit über 1000 nur vom Kerzenschein erhellte Gesichter, ein echtes Zeichen des Friedens.

 

Ein weiteres „highlight“ im Rahmen des Weltjugendtages war der Auftritt einer Performance-Gruppe aus Sarajevo. Bei uns im Jugendhaus und später dann im Friedenspark von Köln tanzten sie ihre Hoffnung, dass der Friede – gegründet im Evangelium – stärker sei, als die dunkle Vergangenheit des Krieges in ihrer Stadt Sarajevo. Emica schrieb nach ihrer Rückkunft: „Ich war so froh über alle Begegnungen. Ihr habt uns so sehr Eure Liebe gezeigt. Und ich bin echt froh, dass ich seit dem einen Jahr in Hardehausen zu euch gehöre!“

 

Seit September 2005 leben erneut zwei junge Leute aus Sarajevo für ein Jahr  im Jugendhaus und absolvieren ihr FSJ. Nenad Eskerica aus Sarajevo und Nedjelko Culjak aus Kiseljak. Sie arbeiteten (mehr oder weniger) im haushandwerklichen Bereich und in der Schulendtagsarbeit mit.

 

Im Herbst 2005 fällt die Entscheidung in der Erzdiözese Sarajevo für das Jugendhaus „Johannes Paul II. – Haus der Begegnung in Sarajevo“. Die ersten Bauarbeiten an dem bereits auf dem Grundstück stehenden Haus beginnen noch im Herbst. Damit beginnt der Traum in Erfüllung zu gehen, der u.a. 10 Jahre „Motor“ für den Friedensweg war: Ein Haus für Jesus – in der Mitte der Seinen – im Herzen Bosniens. In den Monaten bis Sommer 2006 werden wir erneut bestrebt sein, Geld für dieses Haus zu sammeln. Christoph Selter, ein junger Architekt aus Attendorn, wurde gewonnen, eine erste Idee für das Jugendhaus in Sarajevo zu entwickeln. Mit Elan und innerem Engagement machte er sich an die Arbeit.

 

 

Während der Vorbereitungskonferenz zum diesjährigen Weltjugendtag in Deutschland hatte ich im Januar Père Emmanuel aus Ruanda kennen gelernt. Er war der für die Jugendpastoral in Ruanda verantwortliche Priester. Während des WJT waren 6 seiner Jugendlichen „untergetaucht“ und nicht mehr mit nach Afrika heimgekehrt. Dieses Leid hatten wir einen Tag nach Ende des Weltjugendtages bei einem Treffen in Köln noch geteilt. Er hatte mich eingeladen, zum nationalen Weltjugendtag nach Ruanda zu kommen und von unseren Erfahrungen des Evangeliums auf dem Weg „Jesus beim Wort genommen“ zu erzählen. So flogen Annedore Wilmes, Johanna Laible, Frank Rose und ich vom 27.11. – 05.12.2005 nach Ruanda. Wir nahmen in Kigali, der Hauptstadt, am nationalen WJT mit 6000 jungen Ruandern teil. Wir teilten in dieser kurzen Zeit unser Leben vorrangig mit Emmanuel und teilten den jungen Leuten unsere Erfahrungen mit, die das gelebte Evangelium auf unserem Friedensweg hervorgebracht hat. Im Jugendhaus waren 6000 kleine Karten mit dem Motto des Weltjugendtages gefertigt worden. „Wir sind gekommen, Ihn anzubeten!“ Bei der französischen Übersetzung hatten wir einen Fehler gemacht. Dort hieß es: „Nous sommes pour adorer!“ (Wir sind, um anzubeten!) Mit diesem Bewusstsein, dass wir geschaffen sind, um anzubeten, waren wir geflogen. Wir waren im Jugendhaus am Ende des Onword-Meetings 2005 gestartet und hatten während des Wochenendes noch 4 große Tücher gefertigt mit der Botschaft der deutschen „Freunde des Wortes“, miteinander verbunden zu sein. Diese Botschaftsbanderolen wurden im Stadion von Kigali während des WJT angebracht. Der Kontakt zu Emmanuel ging auch nach der Begegnung in Ruanda weiter.

 

2006

tri-nationales meeting 2006

Ende Januar 2006 kam Emmanuel aus Ruanda und Simo aus Sarajevo. Wir trafen uns am Wochenende vom 28.-30. Januar bei Familie Hubert und Familie Selter in Attendorn.

In den Tagen vor diesem Wochenende hatten wir bereits mit Emmanuel versucht, viele kleine Projekt-Ideen, die während der Reise durch Ruanda entstanden waren, umzusetzen und zu inkarnieren. U.a.: „pigs for Ruanda“ – ein Messdienerleiter aus Sennelager macht sich stark dafür, mit seinen Messdienern Geld zu sammeln, damit Familien in einem kleinen Ort in Ruanda alle ein trächtiges Schwein bekommen. „Chorpartnerschaft“, ein Jugendchor aus Heggen macht sich stark für die Unterstützung eines Chores in Ruanda. „Aktion Studentenfutter“, junge Leute des Weges „go4Him“ haben begonnen, 3 Studenten für 5 Jahre auf ihrem Studienweg zu unterstützen, „Ancille“ – einer Familie, die im Genozid drei fremde Kinder aufgenommen hat, wird bei der Unterstützung der Kinder geholfen. Aktion „Schulpartnerschaft“, die Sonnenschule in Attendorn beginnt, mit allen Kindern für eine zerstörte Schule in Kamerun zu sammeln. Sie machen einen großen Aktionstag in Attendorn und bringen mehrere tausend Euro zusammen….

Als Simo, Emmanuel und ich zusammen waren, ging es darum, die Projekt-Idee des „Jugendhauses Johannes Paul II.“ näher zu beleuchten. Bis tief in die Nacht arbeiteten wir an einem Modell, das Christoph Selter bereits entwickelt hatte. Es ging darum, die Zielsetzung des Hauses in Raumbedarf umzusetzen und Funktionalität und Schönheit und Finanzierbarkeit in Einklang zu bringen. Der Rahmen bei den Familien Hubert und Selter bot uns dazu einen familiären Hintergrund und beste Unterstützung an Leib und Seele.

 

Im Rundbrief vom Februar 2006 ist zu lesen: „Ich erinnere mich noch gut, wie wir schon in den ersten Monaten des Friedensweges (vor über 10 Jahren) von einem Haus für die Jugendlichen der Erzdiözese Sarajevo geträumt haben. Jetzt ist die Zeit für dieses Projekt reif geworden!“ Mit Hilfe von Renovabis, Propaganda Fidei, Kirche in Not und kleineren Beiträgen von unserem Spendenkonto konnte der  Grundstückskauf des Jugendhauses Johannes Paul II. vollzogen werden. Simo Marsic zog in der ersten Jahreshälfte, nachdem an dem auf dem Grundstück stehen bleibenden Haus umfangreiche Renovierungsarbeiten gemacht worden waren, in das Haus ein. Damit war ein wichtiger Schritt vollzogen. Simo und ich „umarmten uns per Telefon“. In dieser Zeit erreichte mich ein Anruf von Dechant Piper, Dechant des Dekanates Warburg. Er war immer noch so erfüllt von all den Begegnungen mit den bosnischen Jugendlichen „rund um den Weltjugendtag“, dass er uns eine Weltjugendtagsmonstranz – gefertigt von Bruder Abraham aus Meschede – für das neu entstehende Jugendhaus in Sarajevo schenkte. Sehr modern gehalten, wird die Hostie in der Monstranz auf einem schlichten Bronze-Sockel in einer Bronze-Fassung gehalten. Sie wird „umweht“ von Plexiglas-Segeln und lässt so an den Seesturm denken, auf dem Jesus bei den Seinen ist und sie fragt. „Warum habt ihr solche Angst?“ – Ein wunderschönes – tief gründendes Geschenk für das entstehende Jugendhaus.

 

Natürlich brauchte es weiter finanzielle Hilfen. So kam uns im Team des Jugendhauses die Idee, den Mai-Feiertag für eine Aktion für das Jugendhaus in Sarajevo auszunutzen. „Futtern und füttern!“ war das Motto. Wer bei uns – auf dem Jugendbauernhof mit Biertischen und Bänken hergerichtet – seine Maiwanderung unterbrach und Suppe und Würstchen „futterte“, der „fütterte“ damit das Jugendhaus auf dem Balkan. Mit Musik und vielen Randgesprächen mit Wanderern und ehemaligen Bosnien-TeilnehmerInnen wurde es ein schöner und gelungener Tag. Ebenfalls half uns abermals gegen Ende des Jahres 2005 das Gymnasium Schmallenberg mit einem Geldbetrag aus dem alljährlichen Sponsorenlauf und im Oktober 2006 gab es eine größere Unterstützung aus dem Ertrag des Libori-Missions-Basars. Weiterhin lancierten wir – ausgelöst durch einen Karikaturstreit in Dänemark, wo die religiösen Gefühle der Muslime verletzende Karikaturen des Propheten Mohammed aufgetaucht waren – Friedensstifte. Uns war wichtig, mit dieser Aktion darauf hin zu weisen, dass wir uns mit (geschriebenen und gesprochenen) Worten für den Frieden stark machen können. So galt es gegen die Negativ-Schlagzeilen die Aktion „FRIEDENSSTIFTer sein“ bekannt zu machen. Der Erlös dieser gut angelaufenen Aktion – innerhalb weniger Wochen waren mehrere tausend verkauft – kommt ebenfalls dem Jugendhaus in Sarajevo zu gute.

 

Im April 2006 hatten wir erneut eine große Möbel-Sammel-Aktion für das Haus „Johannes Paul II.“ im Umfeld des Jugendhauses Hardehausen gestartet. U.a. waren drei Tabernakel – einer aus Windhausen / Attendorn, einer aus Steinhausen und einer aus der Jesuitenkirche in Aachen – und eine komplette Büroeinrichtung zusammen gekommen. Mit weiteren Möbeln, Kirchenstühlen und einem Altar gingen sie am 10.04. 2006 mit einem bosnischen Transporter der Caritas aus Bosnien auf den Weg in Richtung Sarajevo. Bis alle Papiere, vor allem die „Schenkungsurkunden“ grenz-fertig waren, verging so manche Büro-Stunde.

 

Vom 10. – 14. Mai 2006 fand in der Erzdiözese Paderborn die diesjährige Eröffnung der bundesweiten Renovabis-Aktion 2006 statt. Aus diesem Anlass wurde Simo Marsic mit Nikolina und Andrea ins Erzbistum eingeladen. Mit dem Referat „Mission – Entwicklung – Frieden“ entwickelten wir ein reichhaltiges Begegnungs- und Präsentations-Programm für die drei, das unter dem Renovabis-Motto stand: „Vergessen im Osten“. Wir waren (mit Tanz und Power-Point-Präsentation) gemeinsam an der St. Ursula-Schule in Attendorn, am Edith-Stein-Kolleg in Paderborn, am Katholischen Gymnasium in Werl und in Schmallenberg und haben einen Info- und Begegnungsabend in Hardehausen (11.05.) durchgeführt. Beim „Markt der Möglichkeiten“ in Paderborn vor dem Rathaus kam es zu vielen Begegnungen, ebenso wie beim Eröffnungsfestgottesdienst mit anschließendem Empfang und Mittagessen am 14. Mai.

 

 

Sommercamp im / am Jugendhaus „Johannes Paul II.“

Vom 07. – 25. Juli fand das Sommercamp „Sarajevo 2006“ in Sarajevo – erstmals auf dem Gelände des entstehenden Jugendhauses statt. 28 deutsche, 1 rumänischer und 16 bosnische Jugendliche aus der Stadt Sarajevo nahmen teil – mittlerweile die „4. Generation des Friedensweges“. Das Motto dieses Camps war: In der Stadt der Menschen die Stadt Gottes bauen!“ In der Kirche von Hardehausen stand seit 2004  auf einer Stehle eine aus Holz gefertigte Stadt. Sie stand sinnbildlich für die „Stadt Gottes“, das himmlische Jerusalem. Weit über 1000 junge Leute aus über 30 Ländern hatten in den Monaten um den Weltjugendtag und an den Tagen selber ihren persönlich gestalteten Baustein in die Mauern dieser Stadt gebaut und so die Stadt der Menschen entstehen lassen. Diese aus Holz gefertigte „Stadt Gottes“ nahmen wir in unseren Bullis mit und stellten sie in der Kapelle des Jugendhauses in Sarajevo auf.  Erzbischof Becker schrieb uns vor der Abfahrt: „Für Ihren erneuten Weg im 10. Jubiläumsjahr, der am 07. Juli beginnt, wünsche ich Ihnen und allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern viel Kraft, gute Begegnungen, froh machende Erfahrungen und nicht zuletzt eine gesunde Rückkehr! Mein Gebet begleitet sie!“

 

Gearbeitet wurde in 3 Workshops: Der „Expositions-Workshop“ bereitete eine Ausstellung im Jugendhaus Johannes Paul II. selber vor. Dargestellt wurde, wie junge Menschen jetzt – 10 Jahre nach dem Krieg – in der Stadt Sarajevo leben (müssen). Der Bau-Workshop baute im Gelände des Jugendhauses eine Außentreppe, befestigte einen Grillplatz neben dem Jugendhaus, deckte einen alten Geräteschuppen neu und machte das „kleine gelbe Haus“, das in Zukunft dem großen Projekt Jugendhaus weichen wird, winterfest. Der Tanz-Workshop entwickelte eine neue Performance zum Thema „wie lebe ich Frieden?“. Aufgrund der beengten Verhältnisse in den bestehenden Häusern, schliefen viele Camp-TeilnehmerInnen in großen aufgestellten Armee-Zelten.

 

Einige Kostbarkeiten des Camps, die uns blieben:

° „Man kann diesen Dienst am Frieden gar nicht unterschätzen. Gern denke ich im Gebet und in der Eucharistiefeier an Sie und die jungen Menschen, die mit ihrem Einsatz Hoffnung und Zuversicht geben und (…) verbleibe mit der Bitte um Gottes reichen Segen für Sie und alle, die sich in den Dienst des Friedens stellen!“ Diese Zeilen von Kardinal Lehmann finden wir nach der Rückkehr in Hardehausen. Er hat unseren Weg über all die Jahre betend und auf jeden Brief reagierend mitgetragen.

° Kardinal Puljic besuchte uns 2 Stunden lang im Camp. Als er die Planungsskizzen des Jugendhauses  und ein kleines Modell desselben sah, sagte er: „Solange haben wir davon geträumt, jetzt beginnt die Realisierung!“

° Christoph Selter, der Architekt, seine Frau Angela und die beiden Kinder besuchten uns für einige Tage im Camp: „Wir fühlen uns so wohl bei Euch! Es tut einfach gut, dieses (oft primitive) Leben miteinander zu teilen und füreinander verantwortlich zu sein.“ Und im Blick auf  das Jugendhaus, das er im Modell schon mitgebracht hatte, sagte er: „Dieses Leben, für das wir das Haus planen, ist schon hier. Wir bauen dem Leben ein Haus!“

° Claudia Nolte, die ehemalige Bundesjugendministerin, die dem Friedensweg seit Jahren verbunden ist und mittlerweile für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Belgrad arbeitet, kam ein Wochenende zu Besuch. Auch sie war echt begeistert und teilte die Zeit, die sie mit uns war, auf einfachste Art mit uns.

° Die Performance wurde in einem großen Camp junger Leute kroatischer, serbischer und muslimischer Herkunft von „wings of hope“ in den Bergen am Bijelaznica und auch beim Friedenskonzert in Vidovice aufgeführt. Jedes Mal erntete die Gruppe viel Beifall.

 

In eigenen Tagebuchnotizen über die Wochen in Bosnien fand ich: „Und dann die Rückfahrt, hinein in eine heiße Nacht. Auf den ersten Kilometern saß Berislav neben mir. Geboren in Vidovice, durch den  Krieg vertrieben, sein Theologie-Studium in Münster beendet und jetzt mit einer Promotion über die japanisch-orthodoxe Kirche befasst. Eine Woche war er gekommen, um eine professionelle DVD über das Camp zu erstellen – als Werbeträger für das entstehende Jugendhaus. Wie vor 10 Jahren, als er den Friedensweg kennen gelernt hatte, sagte er mir: ‚Dieser Weg darf noch nicht enden für mein Land. Er ist wie ein Baum, der echt noch Wasser braucht!’ Ich fragte, was er mit diesem Baum meine. – ‚Weißt Du’, erwiderte er, ‚nirgends habe ich in Bosnien für mich einen Ort oder besser so einen Weg gefunden, der mich auf die Spur des Evangeliums gebracht hat. Ihr lebt dafür auf diesem Weg, dass das Evangelium entdeckt, verstanden und gelebt wird. Ich könnte Dir jetzt alle Mottos der vergangenen Tage aufzählen! Und dieser Weg muss noch stärker werden!’ Dann verließ er meinen Bulli mit Startposition ‚1’, um einen anderen übermüdeten Fahrer in Nummer ‚3’ abzulösen. Ich blieb allein mit meinen Gedanken über ‚diesen Weg des Evangeliums’ und mit den vielen Gesichtern vor Augen, die alle von Jesus berührt waren. Und wieder neu kam mir die Frage: ‚Jesus, du hast mich und uns auf diesen Weg geführt, was ist dein weiterer Plan mit uns?’ Aber der Lichtkegel der Auto-Scheinwerfer erhellte nur eine Scheinwerferlänge den Weg, alles andere blieb im Dunkel. Ja, so ‚gehen’ Gottes Wege. Er gibt das Licht für den nächsten Schritt, alles andere bleibt Sein Werk!“

 

 

 

die vierte Generation FSJ auf dem Friedensweg

Anfang September kommen Nikolina Tuka und Martina Ivanco zu uns für ihr FSJ, das wie all die Jahre vorher, über den In-Via-Diözesan-Caritas-Verband in Paderborn abgewickelt wird zu uns ins Jugendhaus. Eigentlich wollten sie zu viert kommen. Danijela und Andrea hatten sich noch für die Jugendbildungsstätte Kupferberg gemeldet. Leider war Andrea kurz vor Beginn des Jahres abgesprungen, so blieb Danijela Remer, die mit einer weiteren deutschen FSJ-lerin für ein Jahr in Detmold war. Nikolina, seit über 6 Jahren mit uns verbunden (Ich erinnere mich noch, wie sie als 13-Jährige für mich im Schulzentrum von Stup bei meinen Klassenbesuchen übersetzt hatte. Sie war immer ganz Ohr und die Erfahrungen des Evangeliums blieben ihr alle im Herzen haften. Seit Jahren übersetzt sie die Monatskommentar von Jesus beim Wort genommen ins Kroatische.) und Martina fanden sehr schnell ins Jugendhausgeschehen hinein. Schon nach kurzer Zeit waren sie beliebte Team-Mitarbeiterinnen in der Schulendtagsarbeit! Erstmals gehörte zu ihrem Aufgabengebiet, alle drei Wochen eine Woche durchgängig in der Küche zu arbeiten. Dieser Schritt brachte eine noch größere Vernetzung und Verzahnung des Friedensweges mit der Haus-MitarbeiterInnenschaft.

Auf  ein melancholisches Musikstück von Gen Rosso „Oh Lord!“ entwickeln die beiden einen Gebets-Tanz, den sie in vielen Kirchen und am Ende von Schulendtagsabenden in ein Abendgebet eingekleidet präsentieren. Es erzählt  von einem vor der Dunkelheit Gottes stehenden Menschen, der sich trotz aller Finsternis vertrauensvoll an IHN, den Elohim, wendet. Bei der Adventsfeier 2006 tanzen sie dieses Gebet vor der gesamten MitarbeiterInnen-schaft des Jugendhauses. Zwei Briefe, die die beiden vor Weihnachten und vor ihrem Rückflug nach Sarajevo an alle MitarbeiterInnen unseres Hauses schreiben, bringt ihre Dankbarkeit für dieses Jahr zum Ausdruck und steht als Zeichen für eine echte und lebendige Kommunikation mit vielen. Was das Zueinanderfinden zu den deutschen Jugendlichen und das Zusammenwachsen im Beziehungsgeschehen mit ihnen bedeutet, melden sie am Ende ihrer Zeit bei uns das Gleiche zurück, wie schon Dragana, Emica und Ivana und auch Nedo und Neno: Es ist sehr schwer, in festere und bleibende Beziehungen zu den Jugendlichen vor Ort zu finden. Eine permanente Gruppe der „Freunde des Wortes“ hier im Jugendhaus zu installieren, um sich regelmäßig austauschen zu können, ist den beiden – wie allen vorher -  nicht gelungen.

 

Im Gegenzug ist Michael Aust ins Jugendhaus nach Sarajevo gegangen. Er leistet dort sein „Anderes Jahr im Ausland“ ab und kommt aus der Diözese Aachen. Thomas Wittenberg – ehemaliger Schüler des Marianum - und mehrfacher Teilnehmer an den Friedenscamps entscheidet sich auch für ein Jahr in Sarajevo. Er ist evangelisch. Kardinal Puljic gibt trotzdem seine Zustimmung. Aufgrund eines schweren Motorradunfalls, mehrerer Operationen und eines langen Genesungsweges verzögert sich Thomas’ Start bis ins neue Jahr. Er geht allerdings noch für zweieinhalb Monate nach Sarajevo. Weihbischof König und andere Sponsoren hatten seinen Weg unterstützt. In einem Brief an seine Sponsoren schieb er: „Immer wieder kam ich im Laufe des Aufbaucamps im Jahr 2003 und auch darüber hinaus mit bosnischen Jugendlichen zusammen und durfte ihre Geschichte hören. Mit jedem Mal wuchs der Wunsch, noch einmal in dieses Land zurückzukehren, um es tiefer und besser kennen zu lernen, und um die Menschen, die mich begeistert haben, noch mehr schätzen zu lernen. So habe ich  mich entschieden, ein Jahr meines Lebens in Sarajevo zu verbringen und es mit bosnischen Jugendlichen zu teilen.“

 

Vom 25. – 29. August 2006 fuhren Schwester Hiltrude, Annedore Wilmes und ich mit vier weiteren jungen Leuten nach Rumänien zum dortigen Weltjugendtag. Attila, der verantwortliche Priester für die Jugendpastoral in Rumänien, hatte uns eingeladen, Erfahrungen des bosnischen Friedensweges weiter zu geben. Unerwartet und unvermutet sprechen wir im Angesicht der ungarischen Minderheit in Rumänien und erahnen ähnliche Konfliktlinien wie auf dem Balkan. Kurze Zeit nach diesem Besuch haben wir eine Gruppe junger Theologiestudenten aus Rumänien zu Gast im Jugendhaus. Einer der Studenten ist so interessiert an dem gelebten Evangelium, dass er fortan den Kommentar ins Ungarische übersetzt.

 

Kurz vor dem Advent wird die DVD über das Jugendhaus Johannes Paul II. von Berislav Zuparic fertig gestellt. Im Adventsrund-brief 2006 geht sie allen Bosnien-Interessierten zu. Mit ihr ist Berislav erneut ein Meisterwerk gelungen. In der Eingangshalle des Jugendhauses erleben viele Gruppen über die DVD weiter die Aktualität der bosnischen Frage.

 

2007

Wir überlegen im Team des Jugendhauses für die laufenden Kosten des Jugendhauses in Sarajevo eine Stiftung ins Leben zu rufen. Ziel ist es, dass dem Verantwortlichen des Jugendhauses monatlich mindestens 1000 € an festen Einnahmen (aus der Stiftung) zur Verfügung stehen. Auf alle Sponsorenanfragen kommen nur vertröstende und abschlägige Antworten. So überlegen wir im Sommer dieses Jahres, ein erstes Ziel für die Stiftung zu setzen, nämlich 150 000 € zu sammeln, in dem wir 150 Privatpersonen und Institutionen, Freundeskreise und Jugendgruppen, Bischöfe und Banken, Leute in Bosnien, Deutschland und Amerika, Geburtstagfeiernde, Schulklassen… ansprechen und um „eine Waggonladung von 1000 €“ bitten. Wenn wir so bis Ostern 2008 150 Waggons gefüllt hätten, wäre der nächste Schritt die Gründung der Stiftung. Bis Ende des Jahres 2007 waren wir mittlerweile bei ca. 60 Waggons angelangt. Der Fortgang der Dinge konnte auf unserer Homepage www.jugendhaus-hardehausen.de mitverfolgt werden.

Am 13. Dezember 2006 schickt uns Simo einen Zwischenbericht über den Stand der Umbaumaßnahmen des Jugendhauses Johannes Paul II. mit einer Foto-Serie von den Renovierungsarbeiten.

 

Im April 2007 bekommt Simo den Titel Rektor des Jugendhauses Johannes Paul II. in Sarajevo. Damit ist alle Jugendarbeit nicht mehr sein „Privatvergnügen“ und das Ringen um das entstehende Jugendhaus ist nicht mehr sein „Hobby“. Nun hat er die Chance, mit offiziellem Titel für all das zu arbeiten und Stellung zu beziehen.

 

„Hoher Besuch“

„Wer gibt, empfängt!“ – Dieses  göttliche Geheimnis habt Ihr alle erfahren, das ist mir heute Abend deutlich geworden.“ Mit diesen Worten fasste Kardinal Puljic im Jugendhaus Hardehausen seine Eindrücke am Ende eines begegnungsintensiven Abends zusammen. Er war gekommen, um uns nach all den Jahren des Friedensweges in seine Erzdiözese Sarajevo zu besuchen. „Soviel habe ich in den vergangenen Jahren über Hardehausen gehört. Jetzt kann ich sehen und verstehen!“

Als er kam, hatten sich am Abend des 20. Mai ca. 45 Leute auf der Treppe des Jugendhauses versammelt. Es waren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Jugendhauses und Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Friedensweges aus all den vergangenen Jahren. Einige der Bosnienfahrer war bis zu siebenmal mit den Camps gewesen. Drei Studenten des Friedensweges, die in Münster Theologie studieren, Stefan Kube, Annedore Wilmes und Berislav Zuparic hatten Kardinal Puljic schon am Sonntagnachmittag in die Kroatische Mission in Münster begleitet, die dort ihr 40-jähriges Bestehen feierte. Sie hatten den Chauffeur-Dienst übernommen. Bei der Ankunft des Kardinals sangen wir eines seiner Lieblingslieder: „Die Sonne neigt zur Erde sich, schon bricht der Abend an und hinter den Bergen verschwinden schon die Strahlen eines Tages, der nicht enden wird, eines Tages, der immer über uns leuchtet!“ Es ist das Lied, das uns in all den Jahren begleitet und Licht gegeben hat. Aus eben diesem Lied stand über den ersten Jahren immer neu der Impuls: „Wenn du unter uns bist, gibt es keine Nacht!“

 

Mit einer Powerpointpräsentation  hielten wir über zweieinhalb Stunden Rückschau auf die Jahre des Friedensweges. Die, die gekommen waren, erzählten spontan – wenn unerwartet ihr Gesicht auf der Leinwand erschien – was für sie und ihre weiteren Lebenslinien die Erfahrung des bosnischen Friedensweges bedeutet hatten. Es war einfach und bewegend zugleich – eine Ernte nach all den Jahren. Einzelne hatten Mut zu sich selber gewonnen, sie hatten sich und ihr (handwerkliches) Können auf den Baustellen ausprobieren können; andere hatten einen Blick für Europa bekommen; wieder anderen hatte es einfach gut getan, dass ihnen etwas zugetraut worden war; einzelne waren dem Evangelium auf die Spur gekommen und hatten es als Lebensgrundlage für ihr Leben entdeckt; andere hatten sich kennen und lieben gelernt, einige Ehen sind entstanden; internationale Freundschaften sind entstanden, Berufungen sind geweckt worden, Mut, sich auf unkonventionelle Wege einzulassen und sie im Vertrauen auf Gott zu gehen, ist zugewachsen; und immer wieder kam: Ich habe eine Idee bekommen, wer Gott für mein Leben ist.

Aufmerksam hörte der Kardinal zu. Gegen Ende hielt er selbst Rückschau. Er sprach von seinem Traum, einen Ort für Jugendliche in Sarajevo zu haben, wo sie in besonderer Weise Gott auf die Spur kommen und Jesus kennen lernen können. Er sprach von all unseren Suchbewegungen der vergangenen Jahre und er erzählte, wie Gott mehr und mehr SEINEN Weg offenbart und schon offenbart hat. Es war so schön, in all die strahlenden Gesichter zu schauen und wahrzunehmen, was alles gewachsen ist. Und dann saßen wir noch lange bis Mitternacht unter dem Sternenhimmel von Hardehausen (der Kardinal in seinen Plüschpantoffeln) und erzählten, lachten und scherzten. Es war wirklich SEINE Familie  - Familie Jesu aus verschiedenen Völkern vereint.

 

Am 21. Mai besuchten wir mit Kardinal Puljic Erzbischof Becker, bevor er nachmittags vom Flughafen Köln-Bonn aus wieder nach Sarajevo zurück flog. Auf dem Flughafen griff er immer wieder nach meinen Arm und sagte mir nur: „Danke für alles, was ihr für unser Land und vor allem für unsere Jugendlichen gemacht habt und macht!“ Dann fuhr ich mit Nikolina, Martina und Danijela, den drei FSJ-lerinnen dieses Jahres, die den Kardinal noch begleitet hatten, zurück nach Hardehausen.

 

das letzte große Friedenscamp

getragen vom Team des Jugendhauses Hardehausen

Vom 16.07. – 01.08.2007 fand das letzte große Friedenscamp des Jugendhauses Hardehausen in Sarajevo statt – nach den beschriebenen Unterbrechungen von 2004 und 2005 – war es das 10. große Camp. Weiterhin haben  mindestens 10 kleinere in Vidovice stattgefunden – meist eigenverantwortlich von der Vidovice-Friedenskindergarten-Gruppe organisiert, aber eben immer unter der Schirmherrschaft des Jugendhauses. Neben 21 Deutschen nahmen 2007 16 bosnische Jugendliche – vorrangig aus Pfarreien außerhalb der Stadt Sarajevo – teil. Sie kamen aus Stup, Zepce, Podorasje und Zavidovici. Damit war erstmals gewährleistet, dass die bosnischen TeilnehmerInnen während der Camp-Zeit vorrangig ganztägig im Camp anwesend waren.

Ziel dieses Camps war es, Wohnungen von alten hilfsbedürftigen Leuten zu renovieren. Simo Marsic baute mit seiner Mitarbeiterin Ivana Klacar im vorhinein Kontakte zu hilfsbedürftigen Menschen über die Caritas und das Werk „Kruh Sveti Ante“ und auf privater Ebene auf. Während der Camp-Zeit wurde es so möglich, 20 Wohnungen in zum Teil desolatem Zustand zu renovieren. Zur Vorbereitung des Camps kam Simo per Flugzeug vom 11. -13. Juni für 2 Tage nach Hardehausen. So hatten wir die Möglichkeit, das Camp von Anfang an im binational besetzten Team zu planen und durchzuführen.

Wir arbeiteten in 5-6 kleinen Arbeitsgruppen. Zwei Fachmänner, Dirk Schröder und Hans-Josef Appelshofer, wurden mobil eingesetzt. Zwei Bullis samt Fahrer und Logistik standen den ganzen Tag über zur Verfügung. In den Arbeitsgruppen, die zum Teil wechselten, waren Verantwortlichkeiten klar geregelt (LeiterIn / Co-LeiterIn / Materialwart / EssensmanagerIn / ÜbersetzerIn) Die Küche war in bewährt guter Manier mit Bernhard Nake (im Zweitjob: Pfarrer) und Philipp Hunold (Auszubildender aus der Jugendhausküche) besetzt. Das Essen führte in der abschießenden Camp-Reflektion zu „tumultartigen Lobeshymnen“. Neben den Arbeitsphasen war erneut ein Besuchs- und Bildungsprogramm im kleineren Rahmen vorgesehen.

Und dann wie immer gab es viele kleine uns bleibende Erfahrungen. Eine ist in einem der Rundbriefe von 2007 festgehalten: „Und dann ist da noch eine alte Frau, die ganz allein in einer der Hochhauswohnungen lebt. Sie hat fast nie Besuch. Sie freut sich total über den Besuch des Bautrupps. In ihrer kleinen Wohnung, die ebenfalls dringend renovierungsbedürftig ist, ist seit langem bautechnisch nichts mehr geschehen. Sie hat überhaupt keine Ansprüche. Alles, was die Jugendlichen bei ihr machen, ist für sie mehr als Geschenk… Sie ist sooooo dankbar und lässt es die jungen Handwerker immer wieder spüren. „Und dann lag da in ihrer Badewanne eine rutschfeste Matte. Total kaputt und veraltet. Aber, was soll diese Frau machen. Sie hat kein Geld und kann kaum noch aus dem Haus. An eine neue war gar nicht zu denken!“ erzählte Annedore abends. Am nächsten Tag war sie nochmals bei der alten Frau, mit einer neuen Anti-Rutsch-Matte. In ihrer neuen Wohnung ein „Stück Himmel“. Tag für Tag wird sie durch diese Matte erinnert an die, die sie nicht vergessen haben und die für ein paar Tage mit ihr waren und für sie gelebt haben. Dieses „Brot des Miteinanders“ wird für sie noch wichtiger sein als das „Brot der Farbe“, neu auf die Wände aufgetragen.“

Gabi Ballweg, eine Journalistin der „Neuen Stadt“ kommt für drei Tage nach Sarajevo und lebt und arbeitet mit uns. In der September-Nummer der Neuen Stadt erscheint ihr Leit-Artikel „Leuchtspuren in Sarajevo“.

 

Als „Leuchtspur für Sarajevo“ hatte auch Dr. Christian Schwarz-Schilling, ehemaliger Hoher Repräsentant für Bosnien-Herzegowina, viel Lebens- und Arbeitskraft in dieses Land investiert. Am 17.08.07 schrieb er uns: „Vielen Dank für Ihren Brief ‚Sarajevo-Camp 2007’. Ich habe diesen Brief mit großer Freude gelesen und ich freue mich, dass es solche guten Initiativen gibt. (…) Ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute, möchte Ihnen auch als Freund von Bosnien und Herzegowina danken für die guten und wichtigen Initiativen, die Sie gestartet haben.“ Wenige Tage später bekamen wir einen Anruf aus Seinem Büro. Er gab uns für unsere geplante Stiftung eine „Waggonladung“. Kurze Zeit danach traf Annedore Wilmes ihn bei einer Zusammenkunft für Friedensaktivisten, die für den Libanon, den Kongo und für Bosnien arbeiten. Er machte deutlich, wie wichtig neben allen politischen Aktivitäten auf höherer Ebene, die den Frieden fördernden Aktivitäten auf der Ebene der Bevölkerung sind. Er ermutigte Annedore, den bosnischen Friedensweg, den wir bisher gegangen sind, voran zu treiben.

 

Lange nach Rückkehr aus dem Camp gehen mir die vielen Gesichter der alten Menschen noch nach. In meinen Aufzeichnungen finde ich: „Abends, auf der Matratze liegend, hatte ich all diese Menschen immer wieder vor meinem inneren Auge – die alten, hilfsbedürftigen und die jungen Helfer. Und ich „sah“ sie zusammen, ich „sah“ das Wesen unserer Kirche – einander in der Liebe Jesu nahe zu sein und zu helfen und keinen allein zu lassen. Was wäre das für ein Zeugnis unserer Pfarreien, in ihren jeweiligen Territorien sagen zu können: Keiner ist mehr allein, wir sind mehr und mehr zu dem lebendigen Netzwerk Kirche, zum Leib Christi hier in Sarajevo oder in Paderborn oder in Attendorn oder in… geworden.“

 

„Warum nennt Ihr diesen Weg eigentlich ‚Friedensweg’ und nicht Projekt?“ wurden wir im Camp gefragt. Als Antwort hörte ich von einer jungen Frau: „Dieser Aufbruch nach Bosnien, der vor über 12 Jahren begonnen hat, ist mehr als ein Projekt, das irgendwann seinen Abschluss findet. Dieser Aufbruch hat so viel in Bewegung gebracht, hat junge Leute auf den Weg gebracht, nicht nur sich einzusetzen, sondern das Evangelium zu entdecken und ihm zu folgen. Und dieser Weg hält so viele am Laufen. Es ist eben ein Weg, auf dem mancher eine kurze Zeit mitgeht und für andere, die seit langem mitgehen, wird er zu einem Teil ihres Lebensweges.“

 

Vom 01. – 04. 11.2007 sind Nikolina Tuka und Martina Ivanko in Kamen zu zwei liturgischen Nächten für die Firmbewerberinnen und Firmbewerber der Pfarreien Heilige Familie Kamen und St. Marien Kamen Methler eingeladen. Sie erzählen vom Friedensweg.

 

 

Schlussgedanken für den Übergang und Weitergang

Ich möchte enden mit persönlichen Gedanken. Vor einigen Tagen war das Fest Therese von Avila. Ihre Lebensbotschaft war: „Dios solo y basta!“ Wörtlich: „Gott allein und Schluss!“ Seit den ersten Tagen der Begegnung mit dem Leid in Bosnien-Herzegowina hat mich immer wieder die Frage bewegt: Wer bist Du, Gott? Welches Gesicht zeigst Du uns im Übergang in das neue Jahrtausend? Wie können wir Dich entdecken, dass auch wir sagen können: Dios solo y basta?

 

Konkret gelebte Worte des Evangeliums haben zu verschiedenen Zeiten verschiedene Zugänge zu dem Gott und Vater Jesu eröffnet. Beim Blick an der  Schwelle des neuen Jahrtausends sollen drei genannt sein: Franziskus und Klara lebten das Wort der Armut. Ihnen und der gesamten Kirche ihrer Zeit erschloss sich Gott ganz neu durch das Brennglas der gelebten Armut. Vinzenz von Paul war getroffen von Jesus in den Geringsten und Kranken: „Besucht eine Schwester zehnmal am Tag einen Kranken, so findet sie dort zehnmal täglich Gott!“ Er findet Jesus, indem er „liebt mit der Kraft seiner Arme“. Charles de Foucauld sucht an der Schwelle zum vergangenen Jahrhundert den „Platz der verborgenen Jahre Jesu in Nazareth“. Sein bloßes Dasein – ohne Missionierungsgedanken – sagt den verborgenen  Gott in die Welt hinein.

 

Auf der Suche nach einem Wort Jesu für das vergangene Jahrhundert, das durch Namen wie Auschwitz und Verdun, Hiroshima und Saigon, Goma und Sarajevo in die Geschichte eingehen wird, bin ich in der Erfahrung Chiara Lubichs auf das Wort Jesu am Kreuz gestoßen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“

Der „provozierendste Ort“ in der Geschichte Jesu ist Golgatha. Als Verbrecher gebrandmarkt stirbt er draußen vor der Stadt. Entblößt, ausgestoßen und verlassen – von allen Menschen. Auch Gott, seinen Vater, spürt er nicht mehr. In dieser totalen Ausgesetztheit und Verlassenheit, in dieser völligen Dunkelheit und Perspektivlosigkeit schreit die Liebe: Sie schreit: „Ich will da sein, wo Du, Mensch nie allein sein willst und doch oft bist, in der totalen Verlassenheit. Ich will, dass Du, Mensch, dort nicht mehr alleine bist!“ So weit geht Liebe. Sie geht an den Ort, wo sie, die Fülle, zum Nichts wird, damit jede Dunkelheit und Leere dieser Welt „er-füllt“ wird von dieser Liebe.

Der provozierendste Ort in der  Geschichte Jesu, Golgatha, hat damit als Lokalität personale Züge. Vom Ort Golgatha schaut uns die Liebe an. Es sind wenige Menschen, die diesem Blick standgehalten haben. Alle Jünger sind unter dem Kreuz geflohen. Maria ist geblieben und teilt diesen unendlichen Schmerz. Jesu Blick trifft den ihren. Dieser Blick hat für die Menschheit neue Horizonte aufgerissen. Denn in diesem Blick vertraut Jesus seiner Mutter Maria Johannes an und damit die ganze Menschheit.

Einer der provozierendsten Orte der jüngsten europäischen Geschichte, Sarajevo, kann als Lokalität auch personal gesehen werden. Sarajevo als der Ort der tiefsten Dunkelheit und Perspektivlosigkeit, von dem uns Jesus anschaut. Sein Blick fragt: Du Mensch, darf ich dir diesen  Ausdruck meiner größten Liebe so zumuten. Bist Du bereit standzuhalten und hier bei mir zu bleiben? Und dann deinerseits zu lieben – mit Herz und Verstand, mit Haut und Haar?

 

Wo diese Frage – Tag für Tag neu beantwortet wird – wo liebend (im Schmerz) beieinander gestanden wird, da gilt auf die Ewigkeit vorausgreifend schon heute anfanghaft die Vision des alt gewordenen Sehers Johannes auf der Insel Patmos: „Ich sah die heilige Stadt, das himmlische Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herab kommen. Sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Dann hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein!“ (Apk 21,2-3)

Die Stadt bekommt personale Kategorien – „schön, wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat“. Die im Leid geschenkte Liebe wirkt auf einmal wie Mörtel zwischen den „Lebendigen Steinen“. So wird Wohnung Gottes unter den Menschen – ER in unserer Mitte  -und wir Sein Volk.



Gastfreundschaft


Tritt durch den Spalt,

atme de Ordnung,

lerne am Herd

die Würdes des Gastes

und empfang

in der Fülle der Gaben

deren königliche:

anvertrautes Leid.

                    Klaus Hemmerle