Sommercamp 2012 - "Ich bin da!"

 

Wir sind auf dem „Auto-Put“ in Kroatien. 200 Kilometer - immer gerade aus! Geschwindigkeit: 130 km/h. Hinter mir fahren noch drei Klein-Busse. An Bord sind 28 junge Leute aus Deutschland - auf der Rückfahrt vom diesjährigen Begegnungs- und Aufbau-Camp in Bosnien-Herzegowina. 15 Tage lang haben wir gemeinsam mit 4 tschechischen Jugendlichen und 27 bosnischen jungen Leuten - aus 13 verschiedenen Pfarreien des Landes - in 20 Bau-Workshops gearbeitet und Hoffnung gebracht, die auch in einer wunderbaren Performance zum Abschluss des Camps ansichtig wurde.

 

Marie ist mit von der Partie. Nach einem Auslandsjahr in Bosnien kehrt sie bereichert und froh nach Kamen zurück. Luzie, ebenfalls für ein Jahr in Sarajevo gewesen, bleibt noch ein paar Tage und kommt dann mit dem Flugzeug nach. Ihr Gepäck haben wir schon an Bord. Thomas, ein junger Abiturient, haben wir in Sarajevo zurück gelassen. Mit Renata und Silvia, zwei Freiwilligen aus der Diözese Limburg, wird er ein Jahr in Sarajevo bleiben und Land und Leute kennen lernen. Marija - aus den Bergen Bosniens - war ein Jahr lang bei uns in Kamen gewesen. Der Abschied von ihr war sehr tränenreich gewesen. Ihre Familie war aus den Bergen gekommen, um uns alle im Camp zu sehen. Auch dieses Bild bleibt mir als eines der vielen im Herzen zurück: Marija, ihr Bruder Luka, Vater und Mutter stehen in aller Bescheidenheit unter den großen Bäumen hinter der Kirche von Stup, wo wir zwei Wochen in einer “Zelt-Camp-Stadt” verbracht hatten. Wir singen der Familie ein Lied zur Begrüßung. Nur kurze Augenblicke können wir teilen. Die Zeit drängt zum Aufbruch. Aber ich spüre, wie tief wir einander in diesen Momenten begegnen dürfen, von Herz zu Herz. Unter verschiedenen Horizonten lebend, verbindet uns das gleiche Leben des Evangeliums. Sofort ist Familie spürbar.

 

Im Rückspiegel schaue ich in das strahlende Gesicht von Philipp. Er sitzt in der dritten Reihe des Kleinbusses. „Ach, weißt du“, schreit er gegen den Fahrlärm nach vorne an, „mir als Nicht-Sonntags-Kirchgänger bedeutet der Sonntagsgottesdienst eigentlich nichts!“ Dabei schaue ich in die leuchtenden Augen eines jungen Mannes, in dem das Leben erwacht. Gefragt hatte ich die gesamte Bus-Mannschaft, was ihnen der Sonntagsgottesdienst bedeute. Zugleich hatte mir eben dieser Philipp vor einigen Tagen im gleichen Fahrzeug eröffnet, dass er sich mehr und mehr mit dem Gedanken beschäftige, Theologie zu studieren und möglicherweise Priester zu werden. So fragte ich ihn weiter: „Aber sag mal, wie bist du denn auf die Idee des Priesterseins gekommen? Ich selber hab Kirche noch in ihrer christentümlichen Form erlebt und in diesem Klima wuchs in mir die Idee, Priester zu werden. Du aber hast diesen Horizont nicht mehr erleben können! Wie hat denn Gott bei dir angeklopft?“

 

Aus seiner Tasche zieht er die ‘Perlen des Glaubens und hält die goldene Perle fest zwischen zwei Fingern. „Das hier ist die Gottesperle! Und diese Perle ist es!“ Dabei funkeln und flackern seine Augen. Und weiter erzählt er: „Als wir damals in Kamen die Menschenkette mit den vielen Asylsuchenden gestellt haben und als wir einige Jahr später auf dem Weg zum Weltjugendtag in Madrid auf dem Weg 5 Tage Halt gemacht haben in Vézelay, an den Reliquien von Maria Magdalena ... da war es jedes Mal total klar für mich: ER existiert! Gott lebt. Ich hab IHN erlebt! - Und jetzt im Camp genau das Gleiche. ER ist einfach da! Da ist ja die Botschaft der Gottesperle ‚Ich bin da‘!“

 

Unser Gespräch ging weiter, bis tief in die Nacht hinein. Als alle eingeschlafen waren, fand ich Zeit, die Tage des Camps betend Revue passieren zu lassen. Wie eine kostbare Perle sah ich jeden Jugendlichen in dieser Nacht noch einmal vor mir und ich spürte tiefe Dankbarkeit. Am Vormittag noch hatte Thomas seine Geschichte erzählt. Sein Zuhause war für ihn durch viele Umstände kein echtes Zuhause mehr gewesen. Er war auf seiner Lebenssuche schon mit 13 Jahren synthetischen Drogen auf die Spur gekommen, hatte immer neu den Kick gesucht und hatte seinem Körper sehr geschadet. All das erzählte er offen. Und immer neu hatte er nach Gott gefragt, ohne Antwort zu finden. „Und jetzt, hier nach den Tagen des Camps, in dem wir total frei waren, aber echte Tiefe gefunden haben, kann ich nicht sagen, wie Gott ist. Ich kann ihn nicht beschreiben. Aber ich kann sagen: ER existiert! Und das macht mich unendlich froh.“ Ich betete für ihn und seinen Weg.

 

Ich „sah“ Marko. Während des Krieges war er als Kleinkind mit seiner Mutter nach Deutschland gekommen. Er sprach fließend Deutsch und er hatte uns als Dolmetscher sehr geholfen. Während der abschließenden Reflexionsrunde - hoch oben in den bosnischen Bergen des Jahorina - hatte er seine Geschichte erzählt. „Ich mußte als Kind in Deutschland zwei Mal mit ansehen, wie sich meine Mutter das Leben nehmen wollte, weil sie so verzweifelt war! Ich hab das erst gar nicht verstanden.“ Ich spürte, wie sehr diese Erschütterung noch in ihm lebendig war. Mittlerweile ist er Student in Mostar. „Kannst du mir auch den schwarzen Ring schicken, den du als Zeichen der Solidarität immer um deinen Finger trägst?” fragt er mich beim Abschied. “Ich will durch ihn mit euch allen verbunden bleiben, ich will dieses Lebens des Evangeliums nicht mehr lassen! Bete bitte für mich!“ – Natürlich tue ich das - nicht nur in dieser Nacht!

 

Ein weiterer Jugendlicher hatte mich eines Abends noch um ein Gespräch gebeten. Sozial sehr engagiert, hörte ich all seinen Erfahrungsgeschichten lange zu. Zugleich hatte ich den Eindruck, dass er mir mehr sagen wollte, als er bisher gesagt hatte. Und dann formulierte er: „Weißt du, ich spüre in diesen Tagen mehr und mehr, es gibt ein MEHR, als das, wofür ich bisher gelebt habe...” Auch in ihm war die Frage nach seiner Berufung aufgebrochen, möglicherweise nach einem Weg als Priester. „Aber erzähl das bitte noch niemandem! Ich hätte das bei mir nie gedacht!“

 

Und ich sah Angelika vor meinem Auge. Sie hatte in diesen Tagen viel gearbeitet. Es war ihr zweites Camp, an dem sie teilnahm. Sie hatte viel geholfen, die Logistik für die Küche und die Baustellen Tag für Tag zu managen. Spät abends hatte sie täglich Tagebuchnotizen auf die onword-Homepage gestellt. Auch ihr Beitrag zur Reflexion war mir geblieben: „Zu Hause gehe ich meist sonntags noch mit meiner Familie zur Messe. Dieses gemeinsame Tun ist irgendwie schön, aber die Messe, so wie wir sie feiern, sagt mir und meinem persönlichen Leben eigentlich wenig! Aber hier war ich oft abends zur Austauschrunde über die Erfahrungen mit dem Evangelium in der Kirche und bin dann einige Male noch zur abendlichen Messe in unserer Runde geblieben. Irgendwie hatte das immer mit unserem Leben hier zu tun. Ich bin in diesen Augenblicken total ruhig geworden, hab die Messe echt tief mit feiern können und ich habe gespürt, wie gut mir das tut!“

 

Und Ilija kommt mir in die Gedanken. Am Abend bevor er fuhr, spürte ich in seinen Augen, dass er noch etwas anvertrauen wollte. Einem inneren Impuls folgend, beendete ich die abendliche Austauschrunde noch nicht. Und dann brach es aus ihm heraus: „Ich möchte, ehe ich wieder in meinem Alltag gehe, noch etwas mit euch teilen! In diesen Tagen jährt sich der Todestag meines Vaters. Er hatte Krebs und ich war gerade 14 Jahre alt. Er kam noch nach Sarajevo - für einige Behandlungen. Aber sie haben nichts mehr genutzt. Er wusste um die Aussichtslosigkeit, wir seine Familie nicht! So haben wir gehofft - bis zum Schluss. Und in diesen Tagen des August vor 7 Jahren, stand ich irgendwann an seinem Bett und ich spürte, dass er gehen wird. Dann ist er gestorben. Und ich war noch so klein... - Danke, dass ich euch das alles sagen darf. Ich tu es zum ersten Mal. Ich weiß, ihr werdet es mitnehmen und es liegt jetzt ein wenig auch auf euren Schultern. Danke, dass ihr das mittragt!“

 

In dieser Nacht trage ich all diese jungen Menschen vor Gott. „Ich bin so dankbar für all das, was ich hier erfahren durfte. Ich hätte mir nicht vorstellen können, wie arm und elendig Menschen auf unserem Kontinent leben müssen. Und ich spüre, wie gut es mir geht, mit meiner Familie, mit meinem geordneten Leben... Ich fahre viel bewusster und dankbarer wieder nach Hause zurück. Ja, ich bin dankbarer geworden!“ erzählt Josipa. Diese gleiche Dankbarkeit spüre ich in dieser Nacht. Ich hatte den Eindruck, Gott in diesen Tagen wieder spürbar - Kirche bildend - am Werk erlebt haben zu dürfen. In all den Jugendlichen habe ich spüren dürfen: ER baut sein Reich, ER lässt es anbrechen und ER weckt Berufungen und lässt sie zu gegebener Zeit aufbrechen. Es ist SEIN Reich, das sich mitten in dieser Welt ereignet... in den Wohnungen der alten Leute, in denen die Jugendlichen geholfen haben, auf dem Weg nach Srebrenica, wo die unfassbare Gräueltaten geschehen sind, die Lebensfragen aufgeworfen haben, beim Austausch - Abend für Abend - über unsere Tages-Erfahrungen mit dem Evangelium, beim abendlichen Singen und Tanzen im Camp...

 

Und in all dem „geschieht“ zugleich Europa. „Wenn ich euch jetzt zwei Stunden lang hier im Camp zugesehen und Eure Erfahrungen mit dem Evangelium gehört habe und wenn ich erleben darf, dass ihr aus verschiedenen Ländern gekommen seid, um unseren alten Leuten zu helfen, dann kann ich euch nur sagen: Ihr baut das wahre Europa auf!“ ruft Kardinal Vinko Puljic am Ende des Abschlussabends den Jugendlichen zu.

 

Dieses Wort bewegt mich. Es ist ein Europa, das die Jugendlichen erleben. Fernab von „gesteuerten Planungen“, leben sie hier ein lebendiges Miteinander und lernen sich im Einsatz für andere - ja für die Geringsten - kennen und schätzen. Gilt ähnliches nicht auch für die Kirche. Ereignet sich hier nicht Kirche aus der Kraft des gelebten Wortes? Fernab aller Pastoral-Pläne, Strategien und Konzepte erleben und leben junge Menschen hier Kirche - aus dem Tag für Tag gelebten Wort geboren. Es ist eine Erfahrung, die in Bewegung bringt und aufbrechen lässt.

 

Am letzen Vormittag kommt Marijanna mit ihrem Mann noch vorbei. Sie war die erste Freiwillige, die vor 10 Jahren den Schritt über die bosnische Grenze nach Deutschland gewagt hat und damit den Weg für den seither währenden Freiwilligen-Austausch gebahnt hat. Sie hatte die Erfahrung von Thomas gehört und sagt mir später: “Ach wäre uns - ihrem Mann und ihr - doch als wir 15 oder 16 Jahre alt waren und im Krieg hier aufwachsen mußten, Menschen begegnet, die uns die Kraft des Evangeliums nahe gebracht hätten, unser Leben wäre ganz anders verlaufen. Welche Gnade für diese jungen Leute, schon so früh, auf diese Spur gestoßen zu werden!”

 

Ach ja, und dann waren da noch die zwei bosnischen jungen Leute, in denen die Idee des Priester-Seins angeklungen war und die beiden Mädchen, die überlegen, ein Freiwilliges Soziales Jahr zu machen, möglicherweise in Sarajevo. Und dann waren da noch einige Jugendliche, die sich für „Jesus beim Wort genommen“ angemeldet haben und...

 

Philipp, in dessen strahlende Augen ich eben noch im Abendlicht Kroatiens hatte schauen können, war lange schon eingeschlafen. Was war alles wieder geschehen in diesen letzten zwei Wochen auf dem Balkan - auch in seiner Seele. Gut, dass er und die vielen anderen schliefen! Ein Wort aus dem Markus-Evangelium bewegte mich in diesen Augenblicken: “Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät; dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst, und der Mann weiß nicht wie. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht!” (Mk 4,26 - 28)

 

Also, haben wir Mut, dem Wort Jesu zu trauen!

Und haben wir ebenso den Mut, Schlafen zu gehen, wenn es Zeit ist.

Denn dann ‘arbeitet’ ER - mehr als wir zu träumen vermögen!

 

                                                                  Meinolf Wacker 15.08.2012
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P.S. Die Namen der Jugendlichen sind verändert.





Gastfreundschaft


Tritt durch den Spalt,

atme de Ordnung,

lerne am Herd

die Würdes des Gastes

und empfang

in der Fülle der Gaben

deren königliche:

anvertrautes Leid.

                    Klaus Hemmerle