Beginn einer neuen Zeit
“go4peace in Europe” - Sommercamp 2014 in Sarajevo
Wir stehen am Eingang des Jugendhauses “Johannes Paul II.” in Sarajevo. Noch gilt: „under construction“ - aber schon heute ist es ein idealer Ort für Begegnungen. Hier leuchtet schon die Zukunft eines Landes auf, beseelt und getragen von einer hoch motivierten jungen bosnischen Generation. Viele Ehrengäste sind gekommen, um der ersten Aufführung der Performance “streetlight” von GenRosso in der Sporthalle des Jugendhauses beizuwohnen. Mit seinem gewinnenden Lächeln beugt sich Kardinal Puljić zu mir und sagt: “Das ist unser Traum!” Meine Gedanken wandern zurück in das Jahr 1997. Damals war ich ihm in einem großen Buchenwald in Nordbosnien begegnet. Er hatte Jugendlichen in einer kleinen Berg-Pfarrei das Sakrament der Firmung gespendet. Bei unserer Begegnung hatten wir zum ersten Mal über ein Jugendhaus für die Erzdiözese Sarajevo gesprochen. Voller Hoffnung, Tatendrang und Freude waren wir auseinander gegangen. Zum Abschied hatte er damals gesagt: “Du hast einen Traum und ich habe einen Traum. Heute sind sich diese Träume begegnet!”
17 Jahre waren seither ins Land gegangen. Im Jahr 2000 waren die Überlegungen in eine neue Phase eingetreten. Auf der Suche nach einem geeigneten Gelände in Sarajevo hatten wir erstmals auf dem Gelände des heutigen Jugendhauses im Stadtteil Otoka von Sarajevo gestanden. Bald fiel die Entscheidung, dieses relativ steile Gelände von den Jesuiten abzukaufen und dort ein Jugendzentrum für die Erzdiözese Sarajevo und für die Jugendlichen des gesamten Landes Bosnien-Herzegowina entstehen zu lassen. Šimo Maršić promovierte sich in dieser Zeit in Jugendpastoral in Rom und wurde bald darauf Jugendpfarrer der Erzdiözese Sarajevo. Die ersten Pläne für das Jugendhaus entstanden nach langen Planungsgesprächen im Zusammenspiel mit dem deutschen Architekten Christoph Selter. Er fertige ein erstes Modell. Seine unentgeltliche Arbeit war ein Geschenk an die Jugend des Balkans. Wir übergaben das Modell unter großem Applaus im Sommercamp 2006 den Jugendlichen von Bosnien-Herzegowina. Das Modell wurde in den folgenden Jahren durch den bosnischen Architekten Petar Lušo weiter entwickelt. Lange Jahre des Wartens auf die Baugenehmigung folgten. Es war ein mühsamer Weg für Šimo Maršić und das Team des Jugendhauses Ivan Pavao II., das mittlerweile um ihn entstanden war. Im Jahr 2011 fiel der Startschuss für den Bau. Eine über 13 Meter tiefe Baugrube wurde in den steilen Berghang des Geländes „Gatačka 18“ hineingetrieben, um auf dem Fundament eines großen Parkdecks und einer Sporthalle, die für die zukünftige finanzielle Absicherung des Jugendzentrums gebaut worden waren, Lebens-Raum für die Jugendlichen des Balkan zu schaffen.
“Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben und eure jungen Männer haben Visionen,” lässt uns der Prophet Joel (3,1f) wissen. Der “Traum der Alten” war ein “Ort der Nichtalltäglichkeit für die junge Generation” gewesen, damit diese ihr “Prophet-Sein” entwickeln konnte. Diese prophetische Kraft der Jugend war in Sarajevo bereits mit Händen zu greifen. In 30 Projektlinien wirkte das Team des Jugendhauses “Johannes Paul II.” in die bosnische Gesellschaft hinein. Hunderte Animatoren für die Jugendarbeit in den Dekanaten des gesamten Landes waren bereits heran gebildet. Allein im Sommer 2014 hatten – wie jedes Jahr - vier verschiedene Camps stattgefunden: das ökumenische Camp “Friedensgrund”, an dem Jahr für Jahr orthodoxe und katholische Jugendliche teilnahmen, ein Camp für Waisenkinder, die größtenteils muslimischer Herkunft waren, ein “off-line-Camp”, das Jugendliche den verantwortlichen Umgang mit den neuen Medien, vorrangig mit dem Internet lehrte und nun der “bosnische Friedensweg”, an dem in den vergangenen 19 Jahren über 600 junge Leute aus 12 verschiedenen Ländern teil-genommen hatten. In diesem Jahr waren es 180 junge Leute aus 17 verschiedenen Nationen. Unter den Teilnehmern waren auch Freiwillige aus Deutschland und den USA, die ein ganzes Jahr im Team des Jugendhauses mit gelebt und mitgearbeitet hatten.
“Gut, dass ich gekommen bin, denn von all diesem Leben des Jugendzentrums weiß die Öffentlichkeit ja so wenig!” sagte Doris Pack, die bis Juli diesen Jahres 25 Jahre lang Abgeordnete des Europaparlaments war, beim Rundgang durch das Jugendzentrum. Als wir mit ihr auf der Dachterrasse des Jugendhauses über Sarajevo schauten, sagte sie. “Was für ein Blick! Bewundernswert!” - Im Herzen von Sarajevo war hier ein Haus entstanden mit einem traumhaften Blick auf das “Jerusalem des Balkan”. Die hier in der Stadt gegenwärtige Buntheit der Religionen fand ihren Niederschlag auch in der Zusammensetzung der Gruppe des diesjährigen Friedensweges „go4peace“. So waren neben katholischen u.a. orthodoxe Jugendliche aus Ost-Sarajevo, lutherische Jugendliche aus Schweden, katholische und protestantische Jugendliche aus Deutschland und muslimische Jugendliche aus Mazedonien mit dabei. Für sie alle war einsichtig: Der Friede ist keine Zukunft! Er ist unter den Camp-Teilnehmern schon da und aktualisiert sich in der ehrlichen Offenheit füreinander und miteinander.
Aber worin liegt die Quelle für diesen Frieden? - Eine Antwort auf diese Frage gibt die Architektur des Jugendzentrums. In der Dachetage des Hauses kreuzen sich auf der Frontseite des Gebäudes zwei Fensterlinien. Unaufdringlich zeigt sich in ihnen das Kreuz, das sich ebenfalls in der Dachkonstruktion der Kapelle widerspiegelt. In diesen Linien verbirgt sich ein Zugang zur Botschaft dieses Hauses. Das Kreuz ist Signum für eine Liebe, die bis ans Ende geht und damit alles umfängt. Seitdem Gott, der Liebe ist, sich hat ans Kreuz nageln lassen, muss nichts ausgespart und “draußen” bleiben. Gerade das Dunkle, Schwere, Verirrte, Nicht-Verstehbare findet darin seinen Platz und kann somit zum Leben finden. So öffnet sich ein neuer Raum. Im Ende gebiert sich der Anfang neu. Die verborgene Botschaft des Hauses an alle Jugendlichen des Landes: „Kommt!“
Diesen offenen Raum bietet das Jugendhaus Johannes Paul II. den Jugendlichen des Balkans und darüber hinaus schon heute. In sehr jugendgemäßer Form setzt die katholische Kirche des Balkans damit neue Rahmenbedingungen. Es gilt: “Wir setzen den Rahmen und schaffen Raum!” Und das Schöne ist: In diesem Raum sind sie alle verantwortliche Akteure! Sie selber lernen - ob als Hauptberufliche, Ehrenamtliche (volontiers) oder Teilnehmer - das Leben in die Hand zu nehmen, sich aus zu probieren und schlummernde Talente zu entdecken und zu entwickeln. Darin entwickelt sich ihr “Prophet-sein” für die Gesellschaft und es stärkt sich ihr Mut, ja zu sagen zu den vielen Herausforderungen ihres Lebens. Ein wirklich prophetisches Zeichen in einem Land, in dem 72 % der jungen Leute arbeitslos sind (Juni 2014). Es ist der liebende Blick durch das Kreuz hindurch auf die Stadt Sarajevo und auf das Leben eines jeden einzelnen, zu dem die Architektur des Jugendhauses einlädt. Unter diesem Blick darf alles sein, nichts muss ausgespart bleiben. So entsteht Raum zum Leben, in dem sich das große Wort Hoffnung in vielen kleinen Schritten und Gesten neu durchbuchstabiert. Damit wird göttliche - dem Balkan tief ins Herz gegebene - Gastfreundschaft gelebt.
Diese Hoffnung ging in den Tagen des Camps mit einer großen Freude einher. “Ich war noch nie so froh!” sagte am Ende des Camps eine junge Abiturientin. Dieser Freude waren viele Jugendliche auf die Spur gekommen. “Ich hab lange Zeit immer auf die ganz großen Erfahrungen gewartet und auch gehofft”, sagte David bei einem der abendlichen Austausche in der ersten Woche des Camps in der Kirche in Sarajevo-Stup sitzend. “Aber in diesen Tage habe ich verstanden, dass das Evangelium in jedem Augenblick in den kleinen Schritten, zu denen es mich einlädt, gelebt werden kann. Ich spüre, dass darin eine Freude verborgen liegt, die ich in diesen Tagen hier spüre! Und das kann ich zu Hause weiter leben!” Mit einer Gruppe Jugendlicher aus Slowenien, Bosnien-Herzegowina und Deutschland hatte er dafür Sorge getragen, dass der Sportplatz eines der ältesten Fußball-Clubs von Sarajevo wieder hergerichtet werden konnte. Dabei hatten sich viele Kontakte gesponnen zu den Kindern und Jugendlichen des Ortes.
Eine Gruppe Mädchen war einige Tage lang bei den Schwestern im Karmel in Stup gewesen. Sie hatten bei der Gartenarbeit viel Zeit zum Gespräch auch mit einigen der in Klausur lebenden Schwestern gehabt. “Irgendwie lag in all den Begegnungen so viel Liebe!” erzählte Steffi. “Und ich hab gespürt, wie sehr Gott am Werk ist. Dort war nämlich auch eine polnische junge Frau, die sich für die Berufung zum Ordensleben interessierte. Mit ihr habe ich mich über eine Stunde lang total persönlich unterhalten. Es sollte wohl so sein, dass gerade ich mit in diesem Workshop war!”
Eine andere Workshop-Gruppe, bestehend aus 5 Leuten, hatte die wandelnde Kraft der Liebe ganz handgreiflich erlebt. In einer sehr engen und verschmutzten Wohnung hatten sie begonnen, Hand anzulegen und die Wohnung für einen alten Mann mit seinem Sohn und seiner Tochter wieder herzurichten. Am zweiten Tag hatte der - schon über 50 jährige Sohn - mit der am Vortag begonnen Arbeit weitergemacht. Und er hatte sich – zur Überraschung aller - rasiert. Am dritten Tag hatte er alle Namen der Gruppe gelernt und beim Abschied für jeden der Workshop-Teilnehmer ein kleines persönliches Geschenk vorbereitet. Ein Priester in der Gruppe, der sich sehr engagiert hatte, bekam einen kleinen Kompass geschenkt. “Das ist ja Deine Arbeit, neben der Renovierung musst du ja immer wieder Orientierung finden und Orientierung geben!” Hier war in einer Wohnung in einer der vielen Hochhäuser von Sarajevo Orientierung geschenkt und entdeckt worden.
Nach der ersten Woche, in der Jugendliche aus 5 Nationen miteinander gearbeitet und sich ausgetauscht hatten, kamen in der zweiten Woche junge Leute aus 12 weiteren Ländern dazu. Ganz Europa war auf einmal vertreten, von Italien bis Schweden, von Deutschland bis Albanien. In Peace-Workshops, geleitet von einer jungen Amerikanerin und einem Italiener, kamen diese jungen Menschen dem Frieden auf die Spur, der immer als Aufgabe von jedem einzelnen getan und gelebt sein will. “Be bearers of peace!” war eines der Mottos der Tage gewesen – Sei Friedensbringer! Ganz konkret entdeckten die Jugendlichen, was es bedeutet, in der eigenen Seele Frieden zu halten und mit dem Blick der Liebe aufeinander zu schauen. “Ich hab was Neues kapiert!” erzählte eine junge Slowenin nach einem Workshop mit Ide, einem afrikanischen Künstler von Gen Rosso. “Ich selber bin dafür verantwortlich, wie ich auf andere Menschen schaue und wie ich über sie denke. Der Friede will in jedem Augenblick in mir und in meiner Seele entstehen und dann kann ich ihn weitergeben. Aber wenn ich mit mir nicht im Frieden bin, dann werde ich ihn auch nicht weitergeben können. Ich werde versuchen, stärker über meine Gedanken und meine Worte zu wachen und so Friedensbringer zu sein!”
Jeder Workshop mit den Künstlern von GenRosso, der internationalen Musik-Gruppe, wurde eine echte “Schule des Lebens”. Es wurde hart gearbeitet, um die Botschaft des Musicals “streetlight” in verschiedenen Workshops - in nur drei Tagen - auf die Bühne zu bringen. “Harte Arbeit” bedeutete, sich ganz zu geben nach dem Motto “Don’t stop giving!” und sich gerade darin neu zu entdecken und die eigenen Talente und Möglichkeiten wachsen zu sehen. Was neben aller Professionalität vor allem ansteckte, war die Freude, die von den internationalen Künstlern von GenRosso ausging und die Ermutigung, die jedem Workshop-Teilnehmer zuteil wurde. “Aber wir haben nicht nur gearbeitet! Die haben auch immer so persönlich von sich erzählt, das war für mich das stärkste! Unser Leader hat von seinen Freundschaften erzählt. Dabei habe ich kapiert, dass ich auch oft meine Freunde nur nach dem Bild anschaue, das ich von ihnen habe. Ich hab noch gar nicht entdeckt, wie sie wirklich sind. Und dann entsteht irgendwie kein echtes Fundament, das trägt. Ich möchte lernen, meine Freunde so zu entdecken, wie sie wirklich sind und nicht wie ich sie gerne hätte. Das wird nicht leicht sein, aber das habe ich hier entdeckt!”
Und dann kam der 31. Juli 2014 auf den wir uns so lange vorbereitet hatten. Die Aufführung des Musicals “streetlight” war in allen Zeitungen Sarajevos und auf verschiedenen Fernsehkanälen angekündigt worden. Botschafter verschiedenster Länder, Bischöfe und Politiker waren gekommen. Sie wurden Zeugen einer mitreißenden, ausstrahlungskräftigen Botschaft des Friedens und der Freude. Vor 100 Jahren war Sarajevo die Stadt gewesen, in der der Auslöser zum Ersten Weltkrieg gegeben worden war. Nun standen hier junge Leute auf der Bühne aus den Ländern, die auch in jüngster Vergangenheit – der jüngste Balkankrieg in Bosnien lag ja erst gerade 19 Jahre zurück - gegeneinander aufgestanden waren, und sie erlebten hier ein lebendiges Miteinander. “For one another!” war der Titel eines Liedes von Gen Rosso und auch der Titel eines der Tagesmottos. Das war kein Traum mehr, das war greifbare Wirklichkeit geworden. Hier erlebten wir eine Kirche, die sich in zeitgemäßer Form verschenkte und die ansteckend war. Eine Kirche, die sich hinein wagte in die Welt der Jugendlichen und ihnen Mut machte, die Berufung ihres Lebens zu entdecken und zu leben. “Irgendwie war ich drin, in etwas ganz Großem und ich war Teil davon!” sagte eine junge Frau aus Serbien. Wir erlebten eine Kirche, die sich “wie Salz und Licht verlor und darin ganz sie selbst war!”
Am zweiten Abend waren 9 Busse mit Jugendlichen aus den verschiedenen Teilen Bosnien-Herzegowinas zu der Performance gekommen. Gespannt warteten etwa 800 junge Leute des Landes auf den Beginn der Aufführung. Als die ersten Lichter der light-show über die Bühne flimmerten, waren sie ganz drin. Sie gingen mit, wie nur Jugendliche es können. Die erste Veranstaltung in diesem Jugendzentrum traf ihr Herz und brachte sie in Bewegung! Wie lange hatten wir von einem Ort für Jugendliche hier in dieser Stadt geträumt. In diesen Augenblicken war klar: die Botschaft war angekommen. Das Jugendzentrum „Ivan Pavao II.“ war zu ihrem Haus geworden. Sie waren ein Teil von ihm geworden.
Plötzlich las ich auf einer der Bühnen-Leinwände die Worte “Eine Stadt allein wird nicht genug sein!”. Diese Worte stammten aus einer Meditation von Chiara Lubich: “Una città non basta! - Eine Stadt allein genügt nicht!” Darin ist beschrieben, wie die wirkliche Liebe, einmal entdeckt und gelebt, sich nicht auf eine Stadt allein beschränken kann, sondern wie ein Feuer um sich greift und die Welt in Brand steckt. In diesen Augenblicken wanderten meine Gedanken zurück in das Jahr 2000. Für ein paar Wochen war ich in Sarajevo gewesen und hatte damals in einer ärmlichen Behausung in einem Keller gelebt, um den Jugendlichen dieser Stadt nahe sein zu können. Morgen für morgen hatten wir das Evangelium des Tages gelesen und waren mit einem Motto in die Stadt aufgebrochen. Abends hatten wir uns immer wieder getroffen und unsere Erfahrungen ausgetauscht. So hatten Worte des Evangeliums die Herzen einiger Jugendlicher berührt.
Immer wieder war ich in diesen Wochen an einen Ort oberhalb von Sarajevo in der Republika Srpska gefahren, von wo aus so viel Vernichtung über die Stadt gebracht worden war. Dort oben - in der Nähe des Berges Trebević - hatte ich in den alten Schützengräben gesessen und diese Meditation gelesen. Ich “sah” damals noch nicht, wie sich dieses Geheimnis der Liebe über dieser Stadt und in dieser Stadt würde entwickeln können. So hatte ich fest glaubend immer wieder dafür gebetet. Aber ich erinnerte mich auch an dunkle Abende und Nächte, in denen es mir schwer geworden war. An diesem Abend nun machte Gott mir das Geschenk, “sehen” zu dürfen. Ich sah Jugendliche aus 18 Nationen auf der Bühne. Ich sah sie als junge Propheten, die voller Freude eine Botschaft brachten, die sie über eine Woche lang zusammen gelebt und erlebt hatten: “go4peace”. Ich sah in ihnen die Zukunft des Kontinentes Europa, auf dem wir lernen, in aller Unterschiedlichkeit und Verschiedenheit zusammen zu leben. Ich sah Europa als lebendige Friedenswerkstatt, in der junge Menschen lernen können, in jedem Nächsten, die Schwester und den Bruder zu entdecken. Es war kein Traum mehr, es war bereits Wirklichkeit.
Und ich sah diese neue Welt auch in den Tränen von Izabela, einer jungen Albanerin. Sie war so glücklich gewesen, als Albanerin an diesem Camp teilzunehmen. An diesem letzten Abend hatte sie, wie die Jugendlichen aus den anderen Ländern auch, ihr eigenes Land kurz vorgestellt, in seiner Schönheit und in seiner Einmaligkeit. Dazu hatten die albanischen Jugendlichen einen Tanz auf der Bühne aufgeführt. Nach der kurzen Aufführung waren viele Jugendliche auf die Bühne gestürzt und hatten begonnen, zu tanzen... Ein Fest der Freude! Und nun stand sie weinend vor mir!
“Warum weinst du?” hatte ich sie gefragt. “Oh, ich habe etwas ganz Schlimmes getan. Ich habe mit einem serbischen Jungen getanzt und das darf ich doch nicht! Das haben wir doch so gelernt!” Ich
fasste sie an ihren Händen und schaute in ihre verweinten Augen. Und dann sagte ich ihr: “Weißt du, so wie ich dich jetzt gerade bei der Hand nehme, so hat dich Gott eben bei der Hand genommen und in
eurem Tanzspiel hat er euch zusammengeführt. Du weißt ja, Gott liebt jeden von uns unendlich. Er ist unser Vater, und deshalb sind wir alle Geschwister - egal zu welchem Volk wir gehören. Adorjan und
Mihajil aus Serbien sind deine Brüder!” Sie schaute mich lange an und fragte: “Dann war das gar nicht so schlimm?” - “Nein”, erwiderte ich ihr, “vielleicht war das sogar der kostbarste Augenblick für
dich in diesem Camp, denn es war der Beginn einer neuen Zeit!”
Meinolf Wacker